Es ist ein Sonderbares um die Wahlkämpfe in der Steiermark und in Wien: Die vorherrschende Strategie der politischen Auseinandersetzung läuft offensichtlich auf Politikvermeidung hinaus. Die Kandidaten wollen sympathisch sein, keiner will Politik machen. Es gibt keine Themen, keine Vorschläge, keine Perspektiven.
Eine sonderbare Spaltung in der Wirklichkeitswahrnehmung lässt sich beobachten. Auf der einen Seite die Kommentatoren und Leserbriefschreiber: Sie verlangen nach der Wahrheit. Endlich müsse alles auf den Tisch, Wählerinnen und Wähler hätten Verständnis für Sparmaßnahmen und Einschnitte, sie würden nur wissen wollen, woran sie sind. Auf der anderen Seite das politische Personal: Es herrsche kein Verständnis, jede Festlegung vergräme Wählerinnen und Wähler, das Nötige werde deshalb nach den Wahlen zur Sprache kommen. Sind Politiker (und ihre Berater) mittlerweile so weltfremd, dass sie die Wählerschaft derart falsch einschätzen?
Die Vertreter der „Wahrheit ist zumutbar“-These übersehen eine strukturelle Tatsache: Zum einen sind alle davon überzeugt, dass endlich gespart werden muss. Reformen sind nötig. Man muss endlich durchgreifen. Zum anderen meinen alle, dass dies vor allem bei den anderen Gruppen nötig ist. Denn selbst ist man ohnehin benachteiligt, gar ein Opfer; und die anderen – die Reichen, die Eisenbahner, die Beamten, die Singles, die Lehrer, die Männer, die Ausländer, die Sozialhilfeempfänger, die Raucher, die Banker – müssen endlich auch das Gehörige beitragen. Wo immer deshalb auch nur eine reformerische Kleinigkeit angedacht wird, erhebt sich wütender Protest der Betroffenen.
Alle wollen die „Wahrheit“ hören – ihre Wahrheit: Mir darf nichts weggenommen werden; gerecht ist es, entschieden gegen die anderen, gegen alle anderen, vorzugehen. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist Politikvermeidung – mit schädlichen Langzeitfolgen.
