Die Suche nach Europas Werten

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Zum sechsten Mal in zehn Jahren fand im südsteirischen Schloss Seggau der Pfingstdialog "Geist & Gegenwart" statt. Das Reden von und über Europa war schon einmal zuversichtlicher. Eine Nachlese.

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Zum sechsten Mal in zehn Jahren fand im südsteirischen Schloss Seggau der Pfingstdialog "Geist & Gegenwart" statt. Das Reden von und über Europa war schon einmal zuversichtlicher. Eine Nachlese.

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Europa, Pfingsten: Wer die beiden zueinander in Beziehung setzt, legt die Latte hoch. Er beschwört so etwas wie einen europäischen Geist und drückt gleichzeitig zumindest indirekt die Hoffnung aus, der creator spiritus möge auch das europäische Projekt (weiter) beflügeln. Um nicht weniger als Geistesgegenwart geht es also.

Solche oder so ähnliche Gedanken dürften an der Wiege jenes Pfingstdialogs von Land Steiermark und Diözese Graz-Seckau gestanden sein, der vor nunmehr zehn Jahren ins Leben gerufen wurde und folgerichtig unter dem Label "Geist &Gegenwart" firmiert.

Geschmäcker, Träume, Werte

Alle zwei Jahre treffen einander europäische Geister aller Schattierungen auf Schloss Seggau bei Leibnitz, dem früheren Sitz der steirischen Bischöfe, um über "Europa" nachzudenken. Die Titel der einzelnen Symposien wechseln -doch ob es nun "Europa. Träume und Traumata","Der Geschmack Europas", "Europa. Erzählen" oder, wie dieses Jahr, "Europa.wertvoll" heißt, es geht immer ums Ganze, also um (Alp-)Träume, Geschmäcker, Erzählungen, Werte; mithin um die Frage, was sich an Hoffnungen und Ängsten mit diesem Europa verbindet, welche Ideen darauf projiziert werden, was diesen Kontinent zusammenhält (lat. continere = zusammenhalten) und trägt, was die dort lebenden Menschen umtreibt, wie dieses -wie es immer genannt wird -"Projekt" Europa vorangetrieben werden könnte.

Doch im Bogen von sechs Pfingstdialogen innerhalb eines Dezenniums lassen sich auch Entwicklungslinien erkennen, Veränderungen in der Ton-und Stimmungslage ausmachen. Einer, der es wissen muss, weil er von Anfang an (auch konzeptiv) dabei ist, der Grazer Soziologe Manfred Prisching brachte das in der Kleinen Zeitung so auf den Punkt: "Das Reden über Europas Zukunft hat sich verschoben, ins Zweifelnde und Düstere." Er spricht von einem "Unbehagen", einem "Rumoren unter den Füßen", von "Angst um die Besitzstände" und vom "Verdacht auf Selbstzerstörung". Kurz: "2005 war der Pfingstdialog optimistischer."

Vielleicht hatte gerade deswegen der diesjährige Titel -"Europa.wertvoll" - mehr als in den vorangegangenen Jahren etwas fast Trotzig-Beschwörendes an sich. Und in der Tat wird es zunehmend schwieriger, auf dem schmalen Grat zwischen EU-Euphorikern und -Schönrednern (Zyniker würden vielleicht sagen Brüssel-Verstehern) und nationalistisch-populistischen EU-Hassern oder -Fundamentalkritikern zu balancieren. Also daran festzuhalten, dass man die Europäische Union als eine gute, "wertvolle" Sache erachtet, aber doch viele Entwicklungen der letzten Jahre, die man auch als schleichende Nivellierung oder Sozialdemokratisierung der Union bezeichnen könnte, kritisch sieht.

Schlagseite des Europa-Diskurses

Der Europa-Diskurs hat eine schwere Schlagseite bekommen. Das zeigte sich auch beim Pfingstdialog in Seggauberg recht deutlich. Wenn es um (gegen) Viktor Orbán, Wladimir Putin oder -nicht ganz so schlimm -David Cameron geht, sind sich immer alle schnell einig. Dafür kann aber der Eröffnungsredner Jakob von Uexküll, Stifter des "Alternativen Nobelpreises" und Mitbegründer des alternativen Weltwirtschaftsgipfels, so gut wie unwidersprochen seine Sicht der Dinge darlegen. Nicht nur, dass Uexküll sich wie erwartet als Klimaapokalyptiker präsentierte -nein, er hat auch seine Sicht der jüngeren Geschichte dargelegt, wonach die friedliebenden Russen den Kalten Krieg beendet hätten, was ihnen aber von NATO und EU übelst gedankt worden sei (wobei natürlich überhaupt diese beiden Institutionen resp. der Westen mehr oder weniger an allem schuld sind). Immerhin, zu seiner Ehre sei's gesagt, hielt da der steirische Wissenschaftslandesrat Christopher Drexler sanft dagegen.

Der Publizist und "Gemeinwohlökonom" Christian Felber wiederum vertrat die Ansicht, dass, solange Europa auf Kosten der übrigen Welt lebe und weil es ja schuld sei an der verheerenden Lage in den Ländern des Südens, sein Wirtschaftssystem allen überstülpen wolle, dieses Europa überhaupt kein Recht habe, auch nur einen einzigen Flüchtling/Migranten zurückzuweisen; unnötig zu sagen, dass die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtling und "Genfer Konventionsflüchtling" für Felber völlig unzulässig ist. Auch das sah Drexler anders - und die deutsch-türkische Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek, vor allem als "Islamkritikerin" bekannt, erlaubte sich gar den Einwurf, sie könne das Gerede von der Schuld Europas bzw. des Westens am globalen Elend nicht mehr hören, was ihr freilich heftigen Widerspruch eintrug.

Weitgehend eines Sinnes ist Kelek gewiss mit Alice Schwarzer, die in Seggauberg über die Gefahren der Islamisierung referierte. Wobei Schwarzer im Unterschied zu Kelek zwischen Islamismus und Islam sehr deutlich unterscheidet, um, wie sie sagt, fremdenfeindlichen Stimmungen keinen Vorschub zu leisten. Während Kelek die Ansicht vertritt, man könne den Islamismus nicht losgelöst von seiner Quelle und seinem Bezugspunkt, eben dem Islam, betrachten. Überraschend für viele dürfte auch gewesen sein, dass Schwarzer -mit Blick auf den in der ersten Reihe sitzenden Episcopus emeritus Egon Kapellari -die christlichen Kirchen aufforderte, selbstbewusster ihre Werte zu präsentieren.

Vitalität der Kirche(n)

Letzterem fiel es zu, den traditionell einem (europäischen) Bischof vorbehaltenen Schlusspunkt des Pfingstdialogs zu setzen -mit einem Vortrag über "Gute Religion? Böse Religion?". Wie bei Kapellari nicht anders zu erwarten, war es eine breit angelegte und in die Tiefe gehende Tour d'horizon durch Literatur, Philosophie und Kunst in der Auseinandersetzung mit Religion, insbesondere dem Christentum. Einmal mehr plädierte Kapellari auch für ein offensives Aushalten von Spannungen anstatt vorschneller und oberflächlicher Harmonisierungen -auch und gerade im Hinblick auf das aktuelle Pontifikat und die sich daran knüpfenden Erwartungen. Und -wie als Antwort auf Schwarzer -verwies der Alt-Bischof zum Schluss auf die trotz "genereller Schwächen" nach wie vor gegebene "Vitalität in den Kirchen und zumal auch in meiner katholischen Kirche", einer "Großmacht der Barmherzigkeit". Auch, aber nicht nur als solche trägt sie jedenfalls zum "wertvollen Europa" Entscheidendes bei.

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