Die Täuschung als Freude und Zwang

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Warum lügen Politiker? Weil Unwahrheit den Wählern weniger weh tut als die Wahrheit? Eine Nachfrage unter Politikern ergibt wenig haltbare Antworten. Nur diese eine ist sicher: Lügen tun immer nur die anderen.

Lassen wir einmal beiseite, dass wir offensichtlich alle zur Lüge neigen. 200 Mal pro Tag sagt der Mensch durchschnittlich die Unwahrheit, ist in psychologischen Studien zu lesen. Wenn das stimmt, dann ist Lügen tatsächlich kein notorischer, sondern ein höchst normaler Zustand der Menschheit. Nietzsche hat das schon gewusst, ganz ohne jede Feldforschung: "Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer‘ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz.“

Diesseits des Lustprinzips tut das Lügen also weniger weh als die Wahrheit. Wenn das stimmt, wäre es auch auf die etwas niedrigere Ebene der Politik anwendbar? Demgemäß müssten Politiker besonders empfänglich für die Lüge sein, da eine ihrer existenziellen Aufgaben darin besteht, den Wählern zu gefallen. Sie müssten also vermeiden, diesen Wählern weh zu tun. Nach Nietzsches Verständnis löge er ja nicht aus Freude, sondern im Zwange seiner Aufgabe.

Krankhaft lügen

Tatsächlich stellt sich echte Freude an kapitalen Lügen laut psychiatrischer Forschung nur bei kranken Menschen ein. Adolf Hitler ist dafür ein markantes Beispiel. Im September 1938 empfing er den britischen Kanzler Neville Chamberlain, um ihm mit der vorgeblichen Sehnsucht der Deutschen nach Volkseinheit die Annektion des Sudetenlandes zu verkaufen. Als sein Plan aufging, musste er kurz den Raum verlassen, um nebenan im Angesicht seiner Generäle seine Freude mit Luftsprüngen abzuführen.

Wie gehen aber Politiker, die keinerlei pathologische Anlagen aufweisen, mit der Lüge um? Aussitzen und Schweigen ist eine beliebte Strategie. Wer erinnert sich etwa heute noch daran, dass der Kanzler der deutschen Wiedervereinigung, Helmuth Kohl, die Kosten der Fusion "aus der Portokassa“ bezahlen wollte?

Wo irgend möglich, verdrängt auch der politische Mensch die Unwahrheiten seines Lebens. Umso bereitwilliger schiebt er sie dafür Kollegen unter. Der deutsche Dokumentarfilmer Stephan Lamby befragte Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen und jeden Alters zum Thema Lüge in der Politik. Und tatsächlich wussten alle, von der Linken Sahra Wagenknecht über Brigitte Zypries bis zu Heiner Geißler viel über die Lügen anderer, aber gar nichts über eigene Falschaussagen zu berichten. Höchstens ein schelmisches Lächeln begleitete den Satz: "Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“

Das absolute Tabu der Lüge trennt den Politiker von anderen Gesellschaftsgruppen. Wenn der Bürger lügt, belügt er höchstens eine kleine Gruppe. Der Politiker belügt ein ganzes Land. Bei ihm hängt an der Lüge gleich seine Existenz. Bill Clinton verlor nach seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky, ("I had no sexual relation with this woman, Monica Lewinsky“) mehr als 20 Prozent an Wählervertrauen. Wobei in diesem Fall die Lüge über das Vergehen bei den Befragten schwerer wog als das Vergehen selbst. Insoferne hat der Satz aus der Wahlwerbung der Grünen, "Wer einmal lügt, den wählt man nicht“, etwas Richtiges. Öffentlich verordnet wird Lügenverbot allerdings nur bei aus Lügen entstandenen Notlagen. ÖVP-Obmann Spindelegger sah sich nach der Bestechungsaffäre um den EU-Abgeordneten Ernst Strasser derartig bedrängt, dass er den vielbeachteten Satz tat: "Wer lügt, der fliegt“.

Der Wahlkampf, der alles erlaubt

Nicht auszudenken, was in Wahlkämpfen geflogen würde, wenn alle damit ernst machten. Polemisieren, zuspitzen, Ecken und Kanten zeigen, das ist das Ziel einer politischen Wahlkampagne. Gefördert werden dabei notgedrungen Menschen, die es mit feiner Differenzierung nicht so genau nehmen.

Der nunmehrige Kampagnenberater der ÖVP und frühere Berater der SPD, Frank Stauss, nannte den deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder bewundernd eine "Rampensau, bis zur Halskrause voll mit Testosteron“. Stellt sich die Frage, ob das Hormon-Kriterium dem System Demokratie gut tut. Ob nicht gerade das Testosteron einen Hang zur Übertreibung bis hin zur Lüge mit sich bringt. Anhänger dieser These bringen als Beispiel die US-Regierung unter George W. Bush, die betont männlich und martialisch auftrat und in den 24 Monaten nach 9/11 gezählte 935 Lügen über den Irak erzählte, auf deren Basis der folgenreichste Krieg der jüngeren Geschichte begann.

Aber Wähler sind duldsam. Obwohl 84 Prozent der Deutschen der Politik nicht vertrauen, gingen 72 Prozent zur Wahl. Angela Merkel gewann nach eigener Einschätzung, weil Deutschland unter ihrer Führung "die Krise bemerkenswert gut überstanden hat“. Das war auch schon anders zu hören: "Die Krise ist nicht überstanden.“ (13. 12. 2012). Und noch einmal anders: "Wir haben die Krise bemerkenswert gut überstanden.“ (20.06. 2011). Was davon ist nun Täuschung, Wahrheit, Irrtum? Luxemburgs Premier Jean Claude Juncker sagte einmal in der Euro-Krise: "Wenn es ernst wird, muss man lügen“. Treffender kann man vermutlich nicht sagen, was ein Politiker niemals sagen dürfte.

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