Die Ungebrochenen von Haiti

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Auch fünf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben leiden die Haitianer an den Folgen der Katastrophe. Aber sie kämpfen auch um ihre Zukunft.

Die statistische Demografie ist eine der großen Erfindungen der Neuzeit. 1662, als John Graunt die Totenbücher der Londoner Pfarreien durchforstete, um die häufigsten Todesursachen zu kalkulieren, konnte er nicht ahnen, was er damit auslösen würde. Mittlerweile wird unser Leben durchberechnet. Die Wahrscheinlichkeit für einen Bürger an dieser oder jener Krankheit zu sterben, die Wirtschaftskraft eines Volkes, sein bevorzugtes Nahrungsmittel. Wir leben in einer statistischen Gesellschaft, in der alles Wichtige in Zahlen darstellbar ist. Wenn es also wirklich nur nach den bloßen Zahlen geht, dann steht es sehr schlecht um den Staat Haiti. Denn es ist eines der Armenhäuser dieser Welt und es ist ein von Katastrophen und horrenden Irrwegen, Korruption, Seuchen, Elend heimgesuchtes Land.

Aber Haiti ist auch ein Land, dessen Hoffnungen, dessen Mut und dessen Überlebenskraft kaum jemand zu Gesicht bekommt, bloß weil diese Faktoren nur schwer oder gar nicht zählbar sind. Aber gerade von diesem Gesichtspunkt aus ist Haiti ein sehr eindrucksvolles Land.

Eine anderes Porträt

Wenn also im Nachfolgenden ein Porträt dieses Staates gezeichnet wird, dann wird nicht allein von der wirtschaftlichen und politischen "Dauerkrise“ die Rede sein, die das Land seit Jahrzehnten plagt (NZZ) und nicht bloß in Daten und Fakten über einen depremierenden Status Quo fünf Jahre nach einer der schlimmsten Erdbebenkatastrophen der Geschichte mit ihren bis heute nachwirkenden Zerstörungen. Es wird vielmehr auch von den nicht zählbaren Dimension die Rede sein, und damit von den Geschichten einiger Menschen, die Haiti vorwärts bringen und sich durch Katastrophen und Widrigkeiten nicht von ihren Vorhaben abschrecken lassen.

Am 12. Jänner 2010 erschütterten Erdstöße der Stärke 7,5 nach Richter Haiti. Die meisten Stahlbetonkonstruktionen, die in ihrer massiven Bauweise allen Orkanen und Wirbelstürmen standgehalten hatten, waren der Belastung zumeist nicht gewachsen und stürzten ein. Von den zehn Millionen Haitianern kamen mehr als 230.000 ums Leben. Mehr als eine Million Haitianer wurden obdachlos. Mehr als 170.000 sind es heute noch. Die Zahl der unbewohnbaren Häuser geht noch immer in die Zehntausende.

Wisler Dyrogène war 2010 noch ein einfacher Zivilingenieur. Als das Beben kam, war er in seinem Haus mit seiner Familie. Plötzlich begann sich alles zu bewegen, wie in einem Anfall von Schwindelgefühl und Wisler schrie, "aus dem Haus!“. Dann liefen sie und alle überlebten. Das Haus stürzte ein. Heute fährt Dyrogène mit einem gelben Bus durch das Land und besucht Baustellen, spricht mit Arbeitern und Architekten. Er bringt ihnen bei, mit wenig Mehraufwand an Material erdbebensichere Häuser zu bauen. "Manchmal reicht es schon, eine Traverse zu legen, um die Stabilität eines Gebäudes signifikant zu erhöhen.“ Dyrogène und 400 Kollegen haben nach dem Beben 420.000 Häuser begutachtet und mit Farben bemalt: Grün für bewohnbar, gelb für schadhaft, rot für einsturzgefährdet. Daraus haben sie Karten erstellt und Sanierungspläne. Insgesamt haben sie 12.000 Menschen im neuen Hausbau trainiert und beim Bau von 120.000 neuen Wohneinheiten beraten. "Langsam wendet sich die Situation zum Besseren, wenn auch nur zaghaft“, sagt Dyrogène.

Haiti ist ein unsicheres Land. Ein UN-Bericht vermerkte im Dezember zwar einen Rückgang bei den Entführungen um 73 Prozent aber einen Anstieg bei Morden um 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 416 Menschen wurden getötet. Haiti hat eine der höchsten Raten bei Kapitalverbrechen weltweit und belegt bei der Anzahl von Morden Rang 54. Auf 1000 Bürger kommen gerade einmal 1,17 Polizisten, der international akzeptable und übliche Wert wären 2,2. In den ländlichen Gegenden fällt die Rate überhaupt auf 0,5 zurück. Fünf Jahre nach dem Beben sind statt 15.000 Polizisten gerade einmal 4000 im Einsatz.

Sharlene Dubois, ihr Mann und ihre Kinder überlebten das Beben von 2010. Aber 2012 wurde ihr Mann auf offener Straße erschossen. Sharlene blieb zurück. Sie weinte und trauerte - und begann ein neues Leben. Sie gründete einen Laden für Mobiltelefone. Heute hat sie 20 Angestellte. "Ich könnte mir nicht vorstellen, anderswo zu wohnen“, sagt sie: "Haiti ist der einzige Platz auf der Welt, an dem es mir gut gehen kann.“

Gesundheit schaffen

Der jüngste Bericht der Vereinten Nationen über die Lage auf Haiti vermerkt "akute Verletzlichkeit“ im Gesundheitsbereich für Teile der Bevölkerung. Mehr als 12,5 Prozent der Bevölkerung gelten als akut unterernährt, ein Viertel der Bevölkerung ist manifest arm. Der Mangel an hygienisch reinem Wasser und funktionierenden Abwasseranlagen hat eine Cholera-Epidemie ausgelöst, an der 705.000 Menschen erkrankt sind, 8570 starben an der Seuche. Der Gesundheitsplan der Regierung leidet unter massiver Unterdotierung. Statt 168 Millionen Dollar stehen derzeit gerade einmal 66 Millionen Dollar zur Verfügung.

Germanite Phanord ist Ärztin. In den Monaten nach dem Beben arbeitete sie Tag und Nacht gegen Tod und Cholera. Sie musste feststellen, dass es außerhalb von Port au Prince gar keine Gesundheitsversorgung gab. "Wer dort krank wird, stirbt“. So zog sie nach Hinche, einer Stadt im Hochland und eröffnete eine kleine Klinik. "Mein Traum war es, ein Spital zu haben, in dem es nicht drauf ankommt, ob ein Patient Geld hat oder nicht“.

60 Prozent der Jugendlichen Haitis sind arbeitslos, von der erwachsenen Bevölkerung sind es auch etwa 40 Prozent. Mehr als 60 Prozent der Schüler Haitis befinden sich auf einem Bildungsniveau, das ihrer Altersstufe nicht entspricht. Für viele besteht der einzige Ausweg aus der Misere, sich bewaffneten Banden und Kidnapper-Organisationen anzuschließen.

Anne Marie Augustin, eine junge Studentin der Ingenieurskunde, ließ das Beben und die Hoffnungslosigkeit danach zur Unternehmerin werden. Sie gründete das Netzwerk ACTIVEH, das jungen Haitianern dabei hilft, eine Ausbildung zu machen und sich in kommunalen Netzwerken zu engagieren. "Bei mir lernen sie Disziplin und mit Menschen umzugehen. Die Jugend soll in die Entwicklung des Landes eingebunden werden.“

Das ist also Haiti, ein Land von mehr als 10 Millionen Einwohnern. Es ist arm, von Katastrophen geschlagen, auf den allerletzten Plätzen der Wohlstands-, Korruptions-, Gesundheits-Rankings der Welt zu finden.

Jean Euphèle Milcé ist Schriftstller. Milcé wollte seinem Land helfen, mit dem was er konnte: Er gründete nach dem Erdbeben einen Literaturclub in Port au Prince. Das Ziel: Menschen sollen über Haiti schreiben lernen, über seine Geschichte und über seinen Schmerz: "Die Schriftsteller, auch die Jüngsten, haben verstanden, dass sie eine Art Verantwortung haben.“ Wofür? "Menschen des Wortes haben die Macht, zu überzeugen.“ Das gilt vielleicht nicht für die Welt, die Gesellschaften nach Statistiken misst. Aber für Haiti gilt es jedenfalls.

Stimmen aus Haiti

Die Weltbank hat die Initiative "Voices of Haiti“ gegründet, das persönliche Geschichten, wie die im Haupttext verwendeten sammelt.

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