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Die verbaute Kammer

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Sonntag, der 26. April, ist ein neuer Schiicksalstag für unser öffentliches Leben. Er wird über die Zusammensetzung des neuen Nationalrates und das politische System unserer Staatsführung entscheiden. Schon läuft die Apparatur der Parteisekretariate an. Nur über einen Sektor verfassungsmäßiger Einrichtungen breitet sich Stille. Der Bundesrat ist von keihem an diesem Apriltag zu erwartenden Wahlereignis bedroht. Er kann seine beschauliche, zurückgezogene Existenz, fast ein Eremitendasein, ungestört weiterführen, denn er ist das angeblich dem Föderalismus reservierte Element, das aus den einzelnen Landtagen hervorgeht und sich jeweils nach dem Ablauf dieser oder jener Ländtagsperiode ergänzt. Er rechnet deshalb seine sanften Gezeiten nicht nach den Legislaturperioden des Nationalrates. Er hat denn auch mit der Legislatur, der Gesetzgebungsarbeit des Parlaments, wenig zu tun. Zwar bestimmt das Zweite Verfassungsübergangsgesetz vom 13. Dezember 1945 in seinem Artikel III: „Der Naiionalrat übt die Gesetzgebung des Bundes gemeinsam mit dem Bundesrat aus." Das ist jedoch so zu verstehen, daß er überhaupt kein Recht hat, initiativ an der Gesetzgebung mitzuwirken, weil er zwar im Wege der Bundesregierung dem Nationalrat einen Gesetzesvorschlag zugehen lassen kann, aber der Nationalrat hat volle Freiheit, diese Bill, ohne sie in Beratung zu ziehen, in den Papierkorb zu werfen. Das heißt, das Recht der Gesetzesinitiative des Bundesrates erhebt sich nicht viel über das Recht eines Kegelklubs, der auch, wenn er auf politische Taten aus ist, eine Gesetzesvorlage dem

Nationalrat zustellen lassen kann; es kann ihm auch nicht mehr geschehen, als daß seine Fleißaufgabe ihr Ende im Papierkorb findet. Das dem Bundesrat verliehene Recht beschränkt sich auf Zustimmung zu den vom Nationalrat beschlossenen Gesetzen und auf die Verweigerung der Genehmigung, ein Ereignis von außerordentlichem Seltenheitswert. Warum sollte sich denn auch der Bundesrät oft bemühen? Wenn er gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates, die ihm fehlerhaft, im Widerspruch zum Staatsinteresse oder der öffentlichen Wohlfahrt erscheinen, Einspruch erhebt, so genügt ja doch ein bloßes Beharren des Nationalrates auf seinem Willen und das vom Bundesrat beanstandete Gesetz erwächst in volle Wirksamkeit. Da ist es nicht ermutigend, nach Verbesserung mangelhafter Legislatur zu streben. In wichtigsten Belangen ist dem Bundesrat sogar dieses bescheidene Einspruchsrecht versagt. Der klassische Begriff der Konstitution umschließt den Anspruch auf Budgetberatung und Budgetgenehmigung. Dem österreichischen Bundesrat ist jede Einflußnahme auf die Erstellung des Staatsvoranschlages und damit die Obsorge auch um Interessen ersten Ranges verwehrt. Welche Anliegen er an den Staatshaushalt hätte, erscheint als gleichgültig; mag ihm zum Beispiel die Verkümmerung der kulturellen Werte durch mangelhafte staatliche Fürsorge noch so bedenklich erscheinen. Ihm bleibt nichts übrig, als seine Bedeutungslosigkeit zu verstehen und zu schweigen. Auch von dem primären konstitutionellen Recht, der Anteilnahme an der Rechnungs- und Gebarungskontrolle, ist dem Bundesrat nicht ein Schatten geblieben. Nach Artikel 222 der geltenden Verfassung untefsteht der Rechnungshof, die zur Prüfung der öffentlichen Gebarung mit den Mitteln des Bundesstaates ausgestattete und befähigte Stelle, allein dem Nationalrat. Mit dem Befunde des Rechnungshofes sich zu befassen, fehlt dem Bundesrat die verfassungsrechtliche Befugnis. Der Nationalrat allein ist es auch, der aus seiner Mitte die gewichtige Körperschaft des Hauptausschusses wählt, dessen Zustimmung für die Geltungskraft aller einschneidenden Regierungsmaßnahmen unerläßlich und dessen Ständiger Unterausschuß gesetzlich sogar legitimiert ist, im Falle der Auflösung des Natio nalrates an den Vollziehungsakten des Bundes mitzuwirken.

Immerhin, mag man sagen, ist der Bün- desrat die föderative Körperschaft, über der noch ein Fähnchen bundesstaatlicher Hoheit flattert, wenn auch ringsum der Zentralismus wie das Eis auf einem langsam zufrierenden Teich in unaufhörlichem Wachstum ist. Föderation, Bundesstaat? In der Frühstunde der Ersten österreichischen Republik wurde auf der ersten Salzburger Länderkonferenz durch den Landeshauptmann Dr. Ender der Grundsatz formuliert: Die Berechtigung jedes einzelnen Bundeslandes erfließe nicht aus seiner Größe und Einwohnerzahl, sondern einzig allein aus seinem Bekenntnis zum

Bundesstaat und seiner verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung. Diesem Prinzip folgt die Schweiz in ihrer zahlenmäßigen Gleichstellung der Kantonsvertretungen im Bundesrat, indem sie dem Kanton Schwyz mit seinen 60.000 Einwohnern genau so zwei Bundesratsmandate zuweist wie dem siebenmal größeren und zehnmal volkreicheren Bundesland Bern. Nicht anders hält es die Verfassung der Vereinigten Staaten mit dem grundsätzlichen Aufbau ihres parlamentarischen Oberhauses, des Senats, der sich aus je zwei Vertretern jedes Bundesstaates zusammensetzt, gleichgültig, ob der Bundesstaat Illinois sieben Millionen und neben ihm der Bundesstaat Delaware eine Viertelmillion Einwohner zählt. Die verfassungsrechtliche Struktur des österreichischen Bundesstaates entspricht bis heute einem änderen Prinzip, als der Vorarlberger Landeshauptmann empfahl, sie er- fließt nicht aus dem Grundrecht, aus der Mitgliedschaft zum Bundesstaat: die letzte allgemeine Volkszählung entscheidet, die Mehrheit, die Masse, sie unterwirft deshalb auch ihren Veränderungen das Recht am Bundesrate. Bisher räumte sie von den fünfzig Bundesratssitzen zwölf dem Land Wien ein, und mit einem nicht konsequenten großmütigen Verzicht auf eine genaue Berechnung fielen den Tirolern, Vorarlbergern, Salzburgern und Kärntnern je drei Sitze zu.

Nochmals: Föderalismus? Selbst der Bundesrat hat schon darauf vergessen, daß er im Rahmen der Verfassung das föderative Element zu repräsentieren hat: seine Mitglieder empfangen ihre Immune tät von dem Landtage her, der sie ent-i sendet hat, und die Dauer ihrer Immunität ist nicht abhängig von der Dauer und dem Bestand einer Wahlperiode des Nationalrates, sondern von dem Bestand ihrer Landtage. Dennoch werden im Widerspruch zu diesem Ursprung des Rechtes Immunitätsfälle von Bundesräten in der heutigen Praxis gesetzwidrig nicht von dem zuständigen Landtag, sondern vom Bundesrat entschieden.

Nur die Eile, mit der nach dem Chaos, das Hitlerherrschaft und zweiter Weltkrieg zurückließen, das neue Haus der österreichischen Republik gezimmert wurde, erklärt die kümmerliche Einrichtung des Bundesstaates, dessen Architektur nur ärmliche Spuren des von der Verfassung proklamierten bundesstaatlichen Charakters an sich trägt. Tendenzen, die der Herstellung eines Einkammersystems zustrebten, vermochten die Funktion zu verwischen, die in allen demokratischen Staaten dem Oberhaus, dem Senat — der „zweiten Kammer , wie man bei uns sagt — zufällt: die Funktion, für jeden Grenzfall ausgleichende Kraft, Sicherung gegenüber der Dynamik einer von Parteileidenschaften oder von Diktaturerscheinungen befallenen Demokratie zu 5 ein.

Diese Funktion wird der Bundesrat in der Enge der ihm z u g e s t a n d e n e n Rechte nie üben können, wie er auch nie als ein Organ föderativer Grundverfassung wirksam sein kann. Ihm käme es zu, nicht wie heute ein verkleinertes, von Parteienproporz und Parteiinteressen bestimmtes Abbild des Nationalrates zu sein, sondern der Gemeinschaft die Kräfte dienstbar zu machen, die aus den geistigen, kulturellen und sozialen Energien unseres Volkes zur Arbeit am Gemeinwohl hervorgerufen werden können. Der geistige Arbeiter wäre heute nicht so in die Ecke gedrängt, ein Schatz von Wissen und Erfahrungen könnte zum Nutzen des öffentlichen Wohles erschlossen werden, würde dem Erzieher, dem Wissenschafter, dem erfahrenen Rechtspfleger, den vordersten Trägem der Verantwortung in der Landes- und Stadtverwaltung im Bundesrat verfassungsrechtlich das Mitspracherecht im Staate gesichert.

Es wäre Zeit,, die Konstruktionsfehler in unserem Verfassungswesen zu verbessern; wenig nützen Neuwahlen, solange sie bestehen. Die Änderung ist dringlich. Die „zweite Kammer", der Bundesrat, ist verbaut, sie ist dem Leben zu eröffnen.

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