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Draht gegen die Verzweiflung

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Rund 80.000 Österreicher wählen pro Jahr die Nummer der Telefonseelsorge, weil sie sonst niemanden zum Reden haben (siehe dazu Nr. 7/1996).

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Rund 80.000 Österreicher wählen pro Jahr die Nummer der Telefonseelsorge, weil sie sonst niemanden zum Reden haben (siehe dazu Nr. 7/1996).

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Chad Varah, Pfarrer einer kleinen anglikanischen Gemeinde in Central London, veröffentlichte am 2. November 1993 in einer Londoner Tageszeitung folgendes Inserat: „Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an! Telefon: Ma-nison House 9000." In den darauffolgenden Tagen wurde er von Anrufen überhäuft. In aller Eile trommelte er einige Freunde und Gemeindemitglieder zusammen. Im Keller seiner Kirche wurden weitere Telefone eingerichtet, Tag- und Nachtablösen organisiert. Die erste Stelle einer „Telefonseelsorge" war damit ins Leben gerufen.„Hätte ich geahnt, was für Konsequenzen das Inserat haben wird, hätte ich wohl nie den Mut gehabt, es zu publizieren", meinte Chad Varah später. „Ich folgte ganz einfach meiner inneren Stimme. Ich mußte etwas tun." Anstoß zu seinem Tun war eine Zeitungsnotiz gewesen, in der es hieß, daß in London trotz aller sozialen und medizinischen Hilfen jeden Tag drei Menschen Selbstmord begingen.

Heute gibt es eine internationale Dachorganisation aller Telefonseel-sorge-Dienste namens IFOTES. 340 Dienststellen sind zusammengeschlossen, über 20.000 freiwillige Mitarbeiterinnen) in 20 Ländern führen pro Jahr über vier Millionen seelsorgerische Gespräche.

In Osterreich wählen pro Jahr zirka 80.000 Österreicher in Notsituationen die Nummer der Telefonseelsorge. Sie ist österreichweit unter 1770 und mit der Vorwahl der jeweiligen Landeshauptstadt (Ausnahme Vorarlberg mit der Vorwahl von Dornbirn) erreichbar. Und das 24 Stunden durchgehend. Das „Herzausschütten" kann aber teuer kommen, wenn der Anrufer in ländlichen Regionen wohnt. So kostet die Zone I (25 bis 100 Kilometer) vier Schilling pro Minute, die Zone II (über 100 Kilometer) sechs Schilling. Von 18 bis acht Uhr, auch am Wochenende und feiertags, gilt der Nachttarif von 2,67 beziehungsweise vier Schilling.

„Eine Stunde braucht man bald, wenn man über ein Problem reden will, das einen momentan umzuwerfen droht - wie die Entdeckung, daß der Ehepartner fremdgeht, ein Kind Drogen nimmt oder man sein eigenes Leben nicht mehr erträgt", meint die Leiterin der Wiener Telefonseelsorge, Doris Stepanek.

Seit 1977 ersucht die Telefonseelsorge die Post um den Ortstarif. In der Schweizer Telefonseelsorge wird bereits seit diesem Zeitpunkt für Anrufe nur eine Einheit des Ortstarifes verrechnet. Der Notruf geht automatisch an die nächstliegende Telefonseelsorge-Zentrale. Auch in Deutschland gibt es längst einen „Nahzonen-Tarif'. Die Post-Generaldirektion erinnert in diesem Zusammenhang gern daran, daß der Telefonseelsorge im Jahr 1985 „mit großem technischem Aufwand" die einheitliche Kurzrufnummer 1770 eingerichtet wurde. Die Empfehlung der Post, Anrufer durch Rückruf zu entlasten, ist unpraktikabel, da die gewünschte und wichtige Anonymität verlorenginge.

Das Argument, daß der Ortstarif für die Telefonseelsorge von anderen Hilfsorganisationen als Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes eingeklagt werden könnte, kann entkräftet werden, wenn man bedenkt, daß die Telefonseelsorge ja die einzige rund um die Uhr erreichbare Krisenzentrale ist. Vorstöße höchster Landespolitiker, 60.000 Bürger-Unterschriften, Appelle an das Verkehrsministerium haben bis heute aber keinen Ortstarif gebracht. Auch ein Hilferuf an Bundeskanzler Vranitzky ist bisher ohne Erfolg geblieben. Es nützen auch die ermäßigten Tarife in der Nacht und am Wochenende den Hilfesuchenden wenig, denn Notsituationen halten sich bekanntermaßen an keine Uhrzeiten.

In Wien blickt die Einrichtung der Telefonseelsorge heuer bereits auf 27 Arbeitsjahre zurück. 120 freiwillige Mitarbeiter(innen) haben den Dienst rund um die Uhr möglich gemacht. Die Zahl der Anrufe ist von Jahr zu Jahr gestiegen.

Die Anlässe und Gründe für die Anrufe sind jedoch sehr konstant geblieben. Einsamkeit und Isolation sind nach wie vor „Spitzenreiter" der Anrufenden.

Der Telefonseelsorge der Glaubensgemeinschaften (katholisch und evangelisch) entstehen durch ihre Arbeit kaum Kosten. Die überwiegende

Zahl der Mitarbeiter macht ihren Dienst ehrenamtlich, viele arbeiten sogar schon seit Beginn der Einrichtung der Notrufstelle mit. Die Freiwilligen rekrutieren sich aus den Pfarren oder sind angehende professionelle Lebenshelfer, die sich über ei -nen Praktikumsplatz freuen. Trotzdem werden laufend Menschen gesucht, die anderen ihre Zeit widmen. Die Interessenten müssen mindestens 25 Jahre alt sein und eine Beziehung zu ihrer Kirche haben. Der Ausbildungslehrgang dauert ein Jahr und bietet während der Arbeit auch Su-pervision an.

Es wird nach dem personenzentrierten Ansatz gearbeitet (Rogers-Methode), das heißt, Einfühlungsvermögen in die innere Welt des Anrufers ist Voraussetzung, ebenso Wertschätzung und Echtheit. Die Anrufer werden nicht mit Ratschlägen „erschlagen" und auch nicht missioniert. Wichtigstes Gebot ist „Aktives Zuhören" und „Hilfe zur Selbsthilfe".

Die Autorin ist

freie Mitarbeiterin der Furche.

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