Dramatisches Stück jüngster Zeitgeschichte

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Es ist ein ziemlich vernichtendes Urteil, welches ganz am Ende des Buches steht: "Dass sie selbst den Kontrollverlust zugelassen und monatelang als moralischen Imperativ gerechtfertigt hat, verschweigt die deutsche Bundeskanzlerin", heißt es da lapidar. Dennoch ist es nichts weniger als eine Abrechung, was die Presse-Redakteure Christian Ultsch (Außenpolitik-Chef), Thomas Prior (Innenpolitik) und Rainer Nowak (Chefredakteur) da mit "Flucht" vorgelegt haben: weder mit Angela Merkel noch mit sonst jemandem. Vielmehr versuchen sie präzise nachzuzeichnen, was seit September 2015 Europa unter dem Titel "Flüchtlingskrise" in Atem gehalten hat und bis heute fortwirkt: ein großes Unterfangen, dem sich das Trio nüchtern, aber nicht zynisch, ausgewogen, aber nicht neutral unterzieht.

Die Stoßrichtung ist klar erkennbar und bereits im Untertitel vorgegeben: "Wie der Staat die Kontrolle verlor". Ungeachtet dessen und ungeachtet des eingangs zitierten Urteils über Merkel sind die Autoren dennoch darauf bedacht, simple Schwarz-Weiß-Zeichnung zu vermeiden. Dazu gehört, die Dramatik einzelner Situationen so zu schildern, dass klar wird, dass Urteile im Nachhinein leicht zu fällen sein mögen, zum Zeitpunkt selbst aber die Entscheidungsträger wohl oft nahezu übermenschlichem Druck ausgesetzt waren. Gewiss, das ist Teil des politischen Geschäfts -aber man soll sich das ruhig von Zeit zu Zeit vergegenwärtigen.

Ein Husarenstück: Der Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort die Position ihrer Kanzlerin unterlaufen. ('Flucht')

"Die Türsteher des Kontinents"

Dazu gehört aber auch, dass das Buch kein Heldenepos für Sebastian Kurz geworden ist, wenngleich freilich seine Schlüsselrolle bei der Eindämmung der Massenmigration zu Recht gewürdigt wird. Aber man kann ebenso lesen, dass die Balkanroute auch heute noch nicht einfach absolut "geschlossen" ist; und dass Kurz bei dieser relativen Schließung auch nicht alleine war: "Die Slowenen hatten als Erste die Idee aufgebracht und über Monate die Polizeikooperation [ ] vorangetrieben. Ungarn hat den Mazedoniern Tausende Rollen NATO-Stacheldrahtzaun und - ebenso wie Slowenien, Kroatien, die Slowakei, Tschechien und Polen -Polizisten zur Verstärkung an die Grenze geschickt."

Spannend ist auch zu lesen, dass der Ausgang des Projektes alles andere als gewiss schien, ja, dass, so Ultsch &Co., auch Kurz und sein engstes Umfeld keineswegs von einem Gelingen überzeugt waren.

Aus gutem Grund holen die Autoren hier auch ein Land vor den Vorhang, dessen Rolle in der ganzen Geschichte wohl tendenziell stets unterspielt wurde: Mazedonien. Sebastian Kurz dürfte einiges unternommen haben, der schwer unter Druck stehenden mazedonischen Regierung den Rücken zu stärken: "Ein Husarenstück: Der österreichische Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort auf informellem Weg die öffentliche Position ihrer Kanzlerin unterlaufen." Dass die Flüchtlingskrise nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Kurz und Merkel wurde, ist bekannt.

In der zwischen der deutschen Kanzlerin und dem österreichischen Außenminister stehenden Frage, was nun wichtiger gewesen sei, die Schließung der Balkanroute oder der Deal mit der Türkei, geben sich die Autoren diplomatisch: "Am Ende sind es beide Maßnahmen, die den Flüchtlingsstrom in der Ägäis versiegen lassen", schreiben sie. "Wobei: Am Anfang wird immer das verschlossene Tor an der mazedonischen Grenze stehen." Und gegen Ende des Buches wird dann der Status quo glasklar auf den Punkt gebracht: "Zwei Nicht-EU-Staaten -Mazedonien und die Türkei -sorgen nun dafür, dass keine Flüchtlingsmassen mehr nach Europa kommen. Die Türsteher des Kontinents zeigen dabei eine Härte und Konsequenz, zu der die Mitglieder der Union mit Ausnahme Ungarns nicht fähig gewesen wären."

Alles in allem ist "Flucht" eine aufwändig und sauber recherchierte Aufarbeitung eines ganz wesentlichen Stückes jüngster europäischer Zeitgeschichte. Die 2015/16 ausgelösten Verwerfungen und Bruchlinien sind nach wie vor sicht-und spürbar. Nicht zuletzt das Ergebnis der deutschen Bundestagswahlen muss in diesem Lichte gelesen werden. Für Österreich wird dies nicht minder gelten. Wie es diesbezüglich genau aussieht, wissen wir in wenigen Tagen.

Flucht

Wie der Staat die Kontrolle verlor

Von Christian Ultsch, Thomas Prior, Rainer Nowak

Molden 2017

208 S., geb., € 22,90

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