Durchs milde Kurdistan

19451960198020002020

Die Kurdenregion Rojava in Nordsyrien konnte letzten Sommer dem IS abgetrotzt werden. Eine Reportage aus der Hochburg des Widerstands.

19451960198020002020

Die Kurdenregion Rojava in Nordsyrien konnte letzten Sommer dem IS abgetrotzt werden. Eine Reportage aus der Hochburg des Widerstands.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn Abu Omar in ein Dorf kommt, strömen die Menschen zusammen. Sie kommen aus ihren niedrigen Lehmhäusern auf den staubigen Platz. Alle wollen ihn begrüßen, alte Frauen in schwarzen Gewändern umarmen ihn, die Kinder wollen auf ein Foto mit ihm. Er trägt Tarnuniform und Pistole. Nach seinem Rang befragt, meinte er "eher sowas wie ein General. Aber wir haben keine so strenge Hierarchie beim YPG". YPG (Volksschutzeinheiten) ist die Armee der autonomen Kurdenregion Rojava im äußersten Norden Syriens. Rojava zieht sich vom Tigris an der irakischen Grenze im Osten entlang der türkischen Grenze bis zur Großstadt Aleppo im Südwesten. Zumindest in der Theorie. In der Praxis endet die Kontrolle der YPG bald nach dem Euphrat und der lange umkämpften Stadt Kobane, die die Araber Ras al Ain nennen. Der schmale Korridor um die Stadt Tel Abyad, der die östlichen Kantone von Rojava mit Kobane verbindet, wurde erst im vergangenen Sommer der Kontrolle des "Islamischen Staates" abgetrotzt. Tel Abyad war ein strategischer Nachschubweg für Waffen und andere Güter aus der Türkei und galt als zentrales Einfallstor für ausländische Dschihadisten, die sich dem IS in Syrien anschließen wollen. Der westlichste Kanton Efrin mit seinen 300 Dörfern ist noch immer isoliert. Die rundum operierende islamistische Al Nusra Front genießt den Schutz der Türkei.

Söhne und Tochter wollen kämpfen

In der mehrheitlich kurdisch bevölkerten Autonomieregion liegen viele arabische Dörfer, bewohnt von Beduinen, die von Schafzucht, etwas Getreide- und Baumwollanbau leben. In einem Dorf wurde ein Hammel geschlachtet. Das fette Fleisch wird in großen flachen Blechschüsseln auf den Boden gestellt. Die Gäste nehmen auf den Teppichen Platz und greifen mit den Händen zu. Die großen Brotfladen, die man in kleine Stücke zerreißt, dienen als Löffel, in die man das Fleisch einwickelt. Plötzlich tritt ein Araber an Abu Omar heran. Er lebt in einem entfernten Dorf und ist eigens gekommen, weil sich herumgesprochen hat, dass der hohe Militär hier essen würde. Sein Sohn, sagt er, würde gerne der YPG beitreten. Der hochgeschossene junge Mann hat draußen gewartet und kommt dann auch in den länglichen Wohnraum. Eigentlich haben wir genug Leute, hält ihn Abu Omar hin und stellt ihm einige Fragen. Nach dem Essen sagt er dem Vater: "Er soll sich morgen melden, er darf Soldat werden".

Die YPG ist keine ethnische Befreiungsarmee. Sie besteht aus Kurden, Arabern, christlichen Aramäern, selbst die kleine tschetschenische Minderheit hat ein eigenes Bataillon. Sie wird als echte Volksarmee verstanden und soll 40.000 Soldatinnen und Soldaten haben. 40 Prozent der Truppen bestehen aus Frauen, die mit der YPJ (Frauenschutzeinheiten) ihre eigenen Strukturen haben. Die 32-jährige Dijle bekleidet den Rang einer Kommandantin. Sie posiert zwar gerne auch mit der Kalaschnikow unter dem Portrait von Abdullah Öcalan, stellt aber zunächst klar, dass sie gegen Krieg und Gewalt sei. Stets ein Lächeln auf dem Gesicht mit dem makellosen Gebiss lässt sie nicht erkennen, dass diese Frauen, von denen viele rosa Söckchen unter der Uniform tragen, einen Ruf als besonders tapfere Kämpferinnen haben, die auch bei gefährlichsten Einsätzen nicht in der zweiten Reihe stehen. So haben die Frauen bei der Befreiung von Kobane und Tel Abyad eine entscheidende Rolle gespielt.

Rojava ist nach dem Verständnis der Autonomiebehörde nicht die Keimzelle eines Kurdenstaats, sondern ein multiethnisches Territorium, das als Modell für ein künftiges demokratisches Syrien dienen könne. "Europa soll Rojava unterstützen, damit die Menschen hier in Sicherheit leben können", richtet Abdelsalam Ehmed von der Regierungspartei PYD einen Appell an die EU. Es ist kein Geheimnis, dass PYD und YPG aus der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei als Terrororganisation verfolgt wird, hervorgegangen sind. Doch die Basisdemokratie, die in Rojava vorgelebt wird, der Respekt vor allen Ethnien und Religionen, geben den Menschen Hoffnung. So hat sich auch der international ausgezeichnete Dichter und Journalist Taha Xalil dem Projekt verschrieben. Er sitzt im autonomen Parlament: "Ich glaube, wir haben lange genug unter Diktatoren gelebt. Ich will ein freies Land, wo jeder leben kann wie er will, solange er keinem anderen schadet". Xalil, der lange Jahre im Schweizer Exil gelebt hat, ist optimistisch: "Aber wenn ich merke, dass Rojava nicht so denkt, werde ich dieses Land verlassen".

Angriff in der Nacht

Im Dorf Al Hajjia, etwa eine Stunde südlich der Hauptstadt Qamishli, sitzen die Dorfältesten beisammen. Auch einige Frauen dürfen dabei sein, halten sich aber im Hintergrund. Man sitzt auf Teppichen und Pölstern. Zuckersüßer Tee und kaltes Wasser werden gereicht. In Al Hajjia ist die Nacht auf den 13. September 2014 in schrecklicher Erinnerung. Die Terrormiliz IS wich in einem Rückzugsgefecht den Truppen der YPG. Am Morgen wurden die Leichen von 35 Zivilisten gefunden, darunter drei Frauen und sechs Kinder. Was war passiert? Der syrische Anwalt Mumtaz Ali Hassan, der in der südosttürkischen Stadt Sanliurfa im Exil lebt, hat von einem Massaker der YPG gesprochen. Er hat sich auch den Vorwurf der türkischen Regierung zu eigen gemacht, die YPG betreibe in den arabischen Dörfern ethnische Säuberungen.

"Es war Nacht", sagt einer der Männer, "Als der Angriff begann, haben wir die Schüsse gehört. Ich kann nicht sagen, wer das gemacht hat". Ein anderer fällt ihm ins Wort: "IS hat immer Zivilisten als Schutzschilde missbraucht". Wenn sie sich weigerten, seien sie getötet worden: "So haben sie es in allen Kriegen gemacht, auch hier in Hajjia". Oft hätten die Dschihadisten dann der YPG die Schuld gegeben. Ein junger Mann, der bei der IS war, könne das bestätigen. Wenn der IS ein Dorf einnahm, dann wurde allen Einwohnern verboten, das Dorf zu verlassen. Auch die sechs Kinder seien als menschliche Schutzschilde verwendet worden. Der ehemalige Gotteskrieger ist dank einer sehr großzügigen Amnestie auf freiem Fuß und kann heute unbehelligt in seinem Dorf leben. Der 23-jährige schlanke Mann ist heute voller Scham. Der IS habe ihm Geld angeboten und Frauen versprochen. Er sei froh, dass er heute in Freiheit und Demokratie leben könne.

Terror, Lügen und Manipulation

Niemand im Dorf wünscht sich die Terrorherrschaft der Dschihadisten zurück. "Wenn jemand rauchte, schnitten sie ihm die Finger ab", klagt eine Frau. Und es wird viel geraucht. Auch die Frauen stecken sich gerne eine der scharfen Zigaretten an. Dass die YPG arabische Dorfbewohner vertrieben habe, wie die Exiloppositionellen in der Türkei behaupten, sei eine Lüge. Darin stimmen die Araber in allen besuchten Dörfern überein. Im Gegenteil: vor dem Gefecht hätten sie die Dorfbewohner gewarnt. Diese hätten sich zurückgezogen und seien dann in ihr befreites Dorf zurückgekehrt. Kann es sein, dass alle diese Leute manipuliert wurden, dass für die ausländischen Besucher eine Show abgezogen wurde? Mit den Fakten konfrontiert, behaupten syrische Oppositionelle im türkischen Exil, die Kurden hätten die ursprünglichen Dorfbewohner durch neue, ihnen gewogene, ersetzt. Die Probe aufs Exempel sind Gespräche mit arabischen Flüchtlingen in Lagern außerhalb der Einflusszone der YPG. Aber auch sie wissen nur von Greueltaten des Regimes und vor allem des "Islamischen Staates" zu berichten. Die Leiterin des Lagers Domiz in der irakischen Provinz Dohuk bestätigt, dass letztes Jahr viele Familien aus Rojava in den Irak geflüchtet seien. "Aber seit Anfang des Jahres sind etwa 70.000 Flüchtlinge wieder nach Syrien zurückgekehrt". Viele von ihnen nach Rojava, wo heute Friede und relative Sicherheit herrschen.

Die Reportage kam im Rahmen einer Fact Finding Mission der internationalen Intitiative www.peaceinsyria.org zustande.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung