Ein Land sucht nach seiner Zukunft

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Belgien steckt in der Krise: Wie tief diese ist, zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Umland der Hauptstadt. Eine Spurensuche im Herzen Europas zeigt eine durch den Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen gespaltene belgische Gesellschaft.

Dimitri und Hilde sind nicht von hier. Das merkt man daran, dass sie nur am Schlemmern interessiert sind. Der Name des Restaurants dagegen interessiert sie nicht. 50 Kilometer ist das junge Paar aus Mechelen gefahren, nur um einmal hier zu Mittag zu essen. Schon vor Wochen haben sie einen Tisch reserviert, denn immerhin ist das noble Etablissement diesen Frühling zweimal wöchentlich auf den Bildschirmen Flanderns zu sehen: HalleTwee ist einer von fünf Teilnehmern am populären Format „Mijn Restaurant“. Jeweils zwei Junggastronomen streiten sich nach Big-Brother-Prinzip um den Sieg. Wer vom Publikum gewählt wird, darf als Hauptpreis das Lokal behalten.

Im Sprachenwirrwarr

Was die Bekanntheit angeht, dürfte HalleTwee, untergebracht in einem weiß getünchten alten Haus am Großen Markt in Halle, die Nase vorne haben. Das hat jedoch nicht nur mit Kulinarischem oder Ambiente zu tun, sondern mit dem Namen: Zum Start der Staffel hieß das Restaurant der beiden Freunde Ludovic und Jurgen nämlich noch Les Deux. Doch der kam in Halle gar nicht gut an: In der Kleinstadt südlich von Brüssel ist Sprache nämlich ein heikles Thema. Seit 1993 besteht hier ein „flämisches Manifest“, das dafür sorgt, dass im Straßenbild möglichst keine anderen Sprachen auftauchen. Die Stadtverwaltung schaltete sich ein, und bald darauf lief das Restaurant unter neuen Namen. „Sehr zufrieden“ zeigte sich Dirk Pieters, der Bürgermeister. Er besteht darauf, Ludovic und Jurgen nicht unter Druck gesetzt zu haben. Die Endzwanziger selbst verraten nur so viel: „Der neue Name verweist noch immer auf uns beide, aber auch auf Halle. Wir wollten niemanden vor den Kopf stoßen.“

Die Provinzposse wirft ein bezeichnendes Licht auf die schwierigen Verhältnisse im Umland Brüssels. Wenn die europäische Hauptstadt ein Symbol für Verständigung ist, dann gilt ihr zu Flandern zählender, aber zunehmend von Frankophonen bewohnter Speckgürtel seit Jahrzehnten als Hochburg des komplexen Sprachenkonflikts. Zugleich aber sagt sie auch einiges über den Zustand Belgiens im Jahr 2010: Denn just am Streit um „Brüssel-Halle-Vilvoorde“, dem einzigen Wahlkreis, dessen Bewohner Politiker beider Sprachgruppen ihre Stimmen geben können, zerbrach Ende April die Regierung.

Unversöhnlich standen sie sich gegenüber: die Flamen mit ihrer Losung „BHV spalten“, um den frankophonen Einfluss zu stoppen. Nicht nur, dass an manchen Orten mehrheitlich Französisch gesprochen wird. Auch in den Gemeinderäten sind immer weniger Flamen vertreten. Die Frankophonen dagegen wollen ihre Sonderrechte nicht abgeben. Daher fordern sie, mehrheitlich französischsprachige Orte bei einer Spaltung des Wahlkreises der Hauptstadt anzuschließen, die offiziell zweisprachig ist. Eine Konstellation, in der sich niemand bewegt. Schon seit Jahren nicht.

In BHV kennt man diese Pattstellung. Woher sollte der Sinn für den Ausgleich auch kommen, wenn es ständig um Identität, aber kaum um Inhalte geht? Wenn jede öffentliche Einrichtung ein Politikum ist, die Bibliothek, das Kulturzentrum oder die Schule entweder frankophon oder flämisch sind? Der Versuch der Koexistenz scheitert schon bei etwas so Banalem wie Ortsschildern, denn hier draußen, in den scheinbar so friedlichen grünen Hügeln, ist es Tradition, auf bilingualen Hinweistafeln den jeweils anderen Namen unkenntlich zu machen. Gerade auf flämischer Seite, wo man sich gerne auf die frühere politisch-kulturelle Dominanz der Frankophonen in Belgien beruft, inszeniert man sich gerne als Underdog: Was David die Steinschleuder war, ist dem wackeren Flamen die Sprühdose.

Flämischer „Charakter“

Um den, wie es heißt, „flämischen Charakter“ der Peripherie zu bewahren, gibt es allerdings längst andere Mittel. Der „Wohncode“ der Regionalregierung kam vor zwei Jahren zu internationaler Berühmtheit, als die Antidiskriminierungsbehörde der UN von Flandern Aufklärung verlangte. Dass Kandidaten für eine Sozialwohnung Niederländisch können oder lernen müssen, schien ihr verdächtig. Auch die EU-Kommission will sich demnächst einmal in ihrem eigenen Hinterhof umsehen und untersuchen, ob die Gesetzgebung gegen europäische Grundrechte verstößt.

Suzanne, Anfang 30, spricht kein Wort Niederländisch. Dass sie trotzdem in einer städtischen Mietwohnung am Rand von Vilvoorde wohnt, hat einen Grund: „Mon Monsieur“ ist der Sprache mächtig. Nicht mehr als elf Kilometer liegt die Hauptstadt entfernt, wo zu 80 % französisch gesprochen wird. Dort wuchs Suzanne auf, bevor sie vor fünf Jahren mit ihrer Familie nach Vilvoorde zog. Hier gehört sie zur Minderheit: Ein Fünftel der knapp 40.000 Einwohner sind frankophon. Und die sollen sich anpassen: „Im Interesse ihres Kindes sprechen wir hier Niederländisch! – Sie doch auch?“ fragt ein Schild vor der Schule, von der sie gerade ihre Töchter abholt. Suzanne zuckt die Schultern.

Der Druck zur Assimilation beschränkt sich in Vilvoorde nicht auf Wohncode und Appelle: Erst im April geriet die Kommune in die Schlagzeilen, weil sie seit Jahren auch den freien Immobilienmarkt zu beeinflussen versuchte. Baufirmen wurden angehalten, ihre Objekte an niederländische Kunden zu veräußern. Im Gegenzug zeigte sich die Stadtverwaltung kulant, wenn es um die Baugenehmigung ging. Auch in anderen Gemeinden sind solche Praktiken an der Tagesordnung, enthüllte eine TV-Dokumentation. Betroffen von den Vorwürfen ist auch Jean-Luc Dehaene: Der Ex-Premier war bis 2007 Bürgermeister von Vilvoorde. Kurz vor dem Fall der Regierung versuchte er noch, im BHV-Streit zu vermitteln. Sein Fazit: „Mission impossible.“

Und so gibt es nur einen Ausweg: Neuwahlen. Am 13. Juni sollen sie stattfinden, verkündet das Radio im Fahrradverleih am Bahnhof von Vilvoorde. Jan, der an diesem Nachmittag wenig Kundschaft hat, zieht die Brauen hoch. „Ich bedaure, dass es so gekommen ist. Flämisch, französisch und deutsch: Wir sind doch ein dreisprachiges Land!“, sagt er. Trotzig klingt dieser Satz, als beschwöre er eine Vergangenheit, die es nicht mehr gibt. Auch sonst stimmt der Mittfünfziger nicht unbedingt mit seiner Umgebung überein. Als Zugezogener aus dem westflämischen Kortrijk ist ihm die Verbissenheit des Konflikts um BHV fremd. „Die Menschen hier sind eben sehr flämisch gesinnt“, erklärt er. Und er selbst? „Ach, eher nicht“, sagt er fast entschuldigend.

Dass Neuwahlen etwas ändern, glaubt Jan nicht. Im Gegenteil: „Wir werden noch lange mit diesem Problem zu tun haben“, sagt er voraus. Danach sieht es aus, zumal sich die Symbolpolitik des Brüsseler Rands auf das ganze Land auszudehnen scheint. BHV indes ist dabei, selbst zum politischen Symbol geworden – für Menschen, die 200 Kilometer entfernt wohnen. „Yesterday’s gone“ scheppert es beschwingt aus Jans Radio. Das Stück passt zu einem Land, dem die Kompromissbereitschaft abhanden gekommen ist. Und dessen Zukunft im Dunkeln liegt. Jan jedenfalls sagt, er sorge sich um Belgien.

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