Ein Land wie ein Pulverfass

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Es gärt im bitterarmen Schwemmland am Fuß des Himalaya

Dhaka Airport. Topmodern, hellerleuchtet. Es ist kurz vor Mitternacht, dickliche Geschäftsleute im dezenten Rauschen der Air-Condition, diskrete Security - doch das wahre Bangladesch liegt hinter den getönten Scheiben, an denen bereits Hunderte hängen und die stinkenden Zweitakter ihrer grünen Motorrikschas auf Hochtouren treiben.

Sie, das sind die Bengalen. Vollbärtig die Männer, verschleiert die Frauen. 130 Millionen sind es, die sich im Schwemmland der Himalaya-Ströme drängen, ausgeliefert dem Wohlwollen von Ganges und Brahmaputra. 90 Prozent des Landes erreichen nicht einmal eine Seehöhe von zehn Metern, und die Chittagong-Hills, drüben an der burmesischen Grenze, sind fest in der Hand von Minderheiten und Rebellen: "Don't go there", meint Mustafa, der schmächtige Medizinstudent, "you'll never come back". Was zählt schon ein Menschenleben mehr oder weniger im Ameisenhaufen der Welt? Tausende Tote und Millionen Obdachlose sind die jährliche Schreckensbilanz der spätwinterlichen Schneeschmelze und sommerlicher Monsunregen, die Jahr für Jahr neue Wellen von Entwurzelten in die ohnedies schon berstenden Metropolen treiben und die überbeanspruchte kommunale Infrastruktur weiter belasten. Kühe und Hunde haben längst die Müllentsorgung übernommen und auch Plastiksäcke in ihren Speiseplan aufgenommen. Plastik statt Jute - Zivilisation bedeutet jedoch nicht Wohlstand, und Mars wird Mango noch lange nicht ersetzen.

Wasser ist Tod und Leben: Wie die Überschwemmungen von Norden, so prägen die Wirbelstürme von Süden mit unerschütterlicher Konsequenz Leiden und Leben des Landes. Wohl kein anderer Staat ist dermaßen geprägt von Gunst und Ungunst des Niederschlags, ständig auf Flucht wie Suche zugleich - regelrechte Kämpfe um Trinkwasser sind die Realität vor allem in den Großstädten des ehemaligen Ost-Pakistan. Leprakranke Krüppel in morschen Holzkarren gegen die organisierte Kindermafia, dürre Rikschafahrer gegen die Allgewalt der Polizei, eigentlich jeder gegen jeden: "We are too many", so sagen sie selbst. Mit 825 Einwohnern pro Quadratkilometer liegt Bangladesch unter den dichtest besiedelten Ländern der Welt, ein Gewirr aus Hoffnung und Verzweiflung, aus Überfluss und Untergang: Wenn die Taifunsirenen wieder heulen, hasten Hunderttausende ins Hinterland, um bei der Rückkehr wieder vor dem Nichts zu stehen - so wie Ershad, der jetzt davon lebt, Landsleute für eine Rupie auf seine kleine Waage vor der Istara-Moschee steigen zu lassen.

Österreich? Nie gehört. Welche Bedeutung kann schon ein Land haben, wo es nicht einmal Reis gibt? Dal Baht, Linsen mit Reis, sind das Nationalgericht in einem Land, das selbst den Reis importieren muss. Die ledrigen Kebab-Brocken, zu Import-Cola genossen, grenzen schon fast an ein frivoles Festessen.

Glaubenskämpfe

Es gärt schon lange im Lande, und es gärt gewaltig - nicht nur die Krüge Lassi, das vergorene Yoghurt-Getränk der fahrenden Essenshändler von Faridpur. Das Aggressionspotential ist ungeheuer, das Recht des Stärkeren Gesetz. Die Spannung unter den bleiernen Monsunwolken scheint fast greifbar, der bleibende Einfluss längst vergangener Kolonialzeiten unheimlich: "No more tickets"-Schilder für die apathische Warteschlange vor den vergitterten Luken des Fahrkartenschalters in Chittagong, doch für "foreign friends" wird - nach unzähligen Tassen Tee und Verbrüderungen vom "ticket officer" bis zum "station master" - sogar ein Extra-Waggon angekuppelt, ganz ohne Bakschisch. Gastfreundschaft made in Bangladesch, wo ganze Professorenteams der Universität Dhaka per Zug die Kleinstädte des Landes abklappern, um Prüfungen abzunehmen.

Die Gerüche der Tropen. Die Geräusche Asiens. Doch Touristenland ist es keines, wird es wohl nie werden. Keine Berge, keine Wüsten, nur Reisfelder und Sümpfe. Die unzugänglichen Mangrovenwälder der Sundarbans. Teeplantagen an der hügeligen Grenze zu Assam, zum großen Nachbarn Indien. Die verwachsenen Moghulbauten sind allgegenwärtige Erinnerungen einer großen Vergangenheit, nur vereinzelt ersetzt durch graue Betonmonster eines fundamentalistischen Islam, der das Selbstverständnis des Landes prägt. 700 Moscheen allein in Dhaka, doch nur sieben öffentliche Toiletten. Und Souvenirbuden wird man so vergeblich suchen wie bunte Ansichtskarten.

Dabei ist der längste Sandstrand der Welt bei Cox's Bazar über 120 Kilometer lang, doch extrem zyklongefährdet, und Spontanevakuierungen sind nicht Neckermanns Sache. Reisfelder statt Reisetaschen. Tee und Roti, das indische Fladenbrot, statt Bier und Schnitzel, Fischerdörfer statt Discobunker. Dort, wo schon bloße Fußgelenke als anstößig gelten, hat Badevergnügen wohl nichts verloren. Der Indische Ozean als Adria der Dritten Welt scheint eher Illusion denn ferne Vision. Hierher kommen die Reichen aus den Städten, um sich, vollbekleidet, die Füße zu benetzen und unter sich zu sein; mit Kind und Kegel, mit Stubenmädchen und Chauffeur. Fremde sind nicht unbedingt erwünscht, Einheit gegen Einflüsse von außen scheint die oberste Maxime.

Kein neues Motto: War schon 1947 die Spaltung der britischen Kolonie Indien in einen unabhängigen hinduistischen (Indien) und einen islamischen (West- und Ost-Pakistan) Teil bloß die explosive Folge eines schwelenden Religionskonfliktes, so wurde die endgültige Unabhängigkeit des ehemaligen Ost-Pakistan blutig erkämpft: Bangladesch existiert als eigenständiger Staat erst seit 1971. Islamischer Fundamentalismus und glühender Nationalismus sind seither die ständigen Wegbegleiter auf dem langen Marsch aus dem Sumpf.

Es schwelt im Land, das steht fest. Noch wird die allgemeine Unzufriedenheit kanalisiert als Kampf gegen Ungläubige im allgemeinen und Hindus im besonderen. Übergriffe gegen moslemische Glaubensbrüder im verhassten Bruderstaat Indien sind willkommene Anlässe, um von den Schwierigkeiten im eigenen Land abzulenken wie der katastrophalen medizinischen Versorgung, der verheerenden Wirtschaftslage und dem erschreckenden Bildungsstand. Ein Generalstreik ist rasch verhängt, und wer nur einmal den aufgebrachten Mob plündernd und zerstörend durch die gespenstisch rikschafreien Straßen ziehen gesehen hat, lässt sich als Nicht-Moslem wohl besser nicht mehr draußen blicken. Nach dem überwältigenden Wahlsieg von Konservativen und Fundamentalisten vergangene Woche wird bereits vor einer weiteren Islamisierung und Radikalisierung des Landes gewarnt.

Welt der Männer

Bangladesch bleibt die Welt der Männer. Je prächtiger der Bart, desto höher die Stellung. Frauen sind aus dem öffentlichen Leben verbannt, nicht mehr als geduldete Anhängsel und Gebärmaschinen der (ersehnten) Söhne henna-bärtiger Patriarchen. Suspekt sind unverschleierte Frauen, noch dazu Fremde, außerdem Ungläubige: das kann nur Unglück bringen, mögen sich manche Ganges-Schiffer gedacht haben, die selbst den Zutritt auf reguläre Linienschiffe, vielfach rostige Erinnerungen an die große Zeit der Voest-Linz der sechziger Jahre, untersagten. Hauptverkehrsträger im ganzen Land sind die Gewässer des nördlichen Himalaya, die sich am Golf von Bengalen zu einem gigantischen Delta vereinigen. Wasser, nichts als Wasser, so weit das Auge reicht.

Bangladesch heute - das ist wie gestern und morgen. Wenig scheint sich geändert zu haben seit der ersehnten Unabhängigkeit. Das Rad der Zeit steht vielfach still - in den Ziegelfabriken Dhakas, in den Häfen von Chittagong und in den Teeplantagen Sylhets. Was zählt, ist das Gesetz des Stärkeren, ob bei der Verteilung der Hilfslieferungen oder beim Kampf um das bisschen trockener Reis. Das Hochwasser wird zurückgehen. Aber es kommt wieder. Vielleicht bald ...

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