Ein Präsident hört nicht aufs Volk

Werbung
Werbung
Werbung

Eine neue Generation an ukrainischen Politikern, für die "moderne Ideale" gelten, stehe schon in den Startlöchern. Nicht mehr lange und sie werden die jetzige politische Führungsriege ablösen, ist der Abgeordnete zum Kiewer Stadtparlament, Rostislav Korondeev, überzeugt. Er selber zählt sich zu dieser Generation. Gerade dreißig Jahre alt, kandidiert er bei den Ende März stattfindenden Wahlen bereits das dritte Mal für einen Sitz im Parlament der ukrainischen Hauptstadt. Und wie stehen seine Chancen, fragt ihn die furche über den reich gedeckten Tisch hinweg. Korondeev lächelt und gibt sich - bestätigt durch seine letzten beiden Erfolge - siegesgewiss.

Von den Parlamentswahlen am 31. März erwartet sich kaum jemand im Land einen wirklichen Wechsel. Dabei wäre dieser dringend nötig. Mit wem immer in der Ukraine man auch spricht, alle zeigen sich enttäuscht von der regierenden Klasse. Spricht der ausländische Journalist von positiven Wirtschaftstendenzen, der angeblich doch so erfolgreichen Agrarreform oder von im Westen angesehenen ukrainischen Politiker - wie den früheren Regierungschef Wiktor Juschtschenko -, dann erntet er nur ein mildes trauriges Lächeln.

Sehnsucht nach Putin

Die Armut ist "ein Produkt der Demokratie", fasst der Charkover Caritas-Direktor Andrej Andrijenko den Unmut zusammen. Niemand der anwesenden Landsleute widerspricht ihm. Mit großer Sehnsucht schielen die Ostukrainer nach Russland, wo es ihrer Meinung nach besser steht. Präsident Putin mache eine gute Politik, ist man in dieser Runde überzeugt. Zehn Jahre Unabhängigkeit - für die meisten der Befragten eine Farce. "Was hat uns die Unabhängigkeit gebracht? Von wem sind wir heute nicht abhängig?" lauten die Gegenfragen. In Sowjetzeiten galt die Ukraine als Kornkammer der UdSSR, heute ist sie das Armenhaus. Wieviele Ukrainer müssen in russischen Städten für einen Bettel arbeiten?

"Wer an Brot denkt, denkt nicht an Politik", beschreibt Jurij Didewitsch, Student für Völkerrecht in Kiew, die Situation vor den Wahlen. Didewitsch arbeitet für einen kommunistischen Abgeordneten im Parlament. Die Lage der Nation bezeichnet er nüchtern als schlimm. Gewaltsame Umbrüche will er gar nicht mehr ausschließen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, so Didewitsch, wachse unaufhaltsam. Und was soll man machen in einem Land, in dem das Lebensminimum um so vieles höher ist, als die meisten Löhne und Renten?

"Kein einziger Ukrainer habe noch Hoffnung auf Besserung", zeichnet auch Vira Koshyl, Leiterin der Caritas-Betreuungsstätte für Straßenkinder in Kiew, ein düsteres Bild. Das Sozial-, das Gesundheits-, das Unterrichtssystem, alles sei instabil und unverlässlich, begründet sie ihre Unzufriedenheit mit der Politik. Und "der Präsident hört nicht auf sein Volk", will nur gute Informationen hören, sagt Koshyl, nachdem sie immer wieder abweisende Antworten auf ihre Briefe erhalten hat, mit denen sie Leonid Kutschma auf die soziale Situation aufmerksam machen wollte.

"In dieser Zeit denken alle nur an sich", sagt ein Krankenwagenfahrer beim Besuch in seiner ärmlichen Wohnung. Unwillkürlich taucht dieser Satz in der Erinnerung auf, während ein junger Abgeordneter am reich gedeckten Tisch über seine Siegeschancen parliert. W. Machreich

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung