Ein Schlag gegen die weltoffene Türkei

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Analyse: Die Proteste in der Türkei entstanden nicht nur wegen eines Bauprojektes. Sie sind Ergebnis einer autoritären Politik der Regierung.

Vor ein Paar Wochen begann auf dem Gelände des Gezi Parks, der neben dem wichtigsten Platz Istanbuls, dem Taksim-Platz, liegt, ein Widerstand, der sich schnell auf die ganze Türkei ausbreitete. Nach außen hin ging es zunächst "nur“ um den friedlichen Protest gegen eine Verbauung des Parks. Doch nun ist es weit mehr geworden. Die Türkei steht an einer Wende.

Die politische Krise, welche die Proteste nach sich zogen, wäre eigentlich leicht zu bewältigen gewesen. Ein Rückzug oder gar eine Verschiebung des Bauvorhabens hätte den Protest vermutlich sofort beendet. Aber Premierminister Recep Tayyip Erdog˘an verstand die Sensibilität der Menschen nicht. Viele seiner Aussagen und Behauptungen bewegen sich seither weit jenseits der Realität. Erdog˘an sucht Schuldige: die linken Vandalen, die oppositionellen Sozialdemokraten, eine Verschwörung von außen, von Banken. Dieses Nicht-Verstehen-Wollen und -Können des Widerstands und seiner Teilnehmer verhärtete die Fronten und formierte die Bewegung.

Der Gezi Park ist ja nicht nur ein Park, in dem man sich gerne aufhält, oder ein Gegenstand ökologischer Schutzbedürfnisse. Er ist Symbol eines Misstrauens gegen einen Premier Erdog˘an, der an der Summe seiner Aussagen gemessen wird, die mit dem Gezi nur mittelbar zu tun haben: Er wolle die dritte Bosporus-Brücke nach Sultan Selim, der Zehntausende Alewiten töten ließ, benennen. Er wolle ein neues Alkoholverbotsgesetz. Er finde, das alte Gesetz sei von zwei Betrunkenen gemacht worden anstatt nach islamischen Grundsätzen (unter zwei Betrunkenen verstand man die beiden Republiksgründer Atatürk und İnönü).

Der Raub von Rechten

Diese Wortmeldungen entspringen nicht bloß der Eitelkeit, Überheblichkeit und Kompromisslosigkeit des Premiers. Seit zehn Jahren wird Druck auf den säkularen Bevölkerungsteil ausgeübt, der das Gefühl hat, Lebensinhalte und Lebensart würden Stück für Stück abhanden kommen. Erst daraus entsprang der Wunsch nach mehr Demokratie und Freiheit in einem immer autoritärer werdenden politischen System.

Just Erdog˘an war derjenige, der mehr Demokratie und Freiheit versprochen hatte. Aber im Laufe seiner Regierung wurde er immer härter und kompromissloser. Er bekam die Hälfte der Stimmen und versprach, der Premier aller Bürger zu sein. Das tat er aber nicht. Im Gegenteil. Er polarisierte auf Kosten der Hälfte der türkischen Bevölkerung. Er begann sie ihrer Freiheiten zu berauben oder zu verordnen, was wo zu tun sei. Die Türkei wurde unter Erdogan das Land der inhaftierten Journalisten. Viele Medien hörten aus Angst auf, gegen ihn zu schreiben.

In Gezi entstand ein Widerstand von meist einfachen Leuten, die noch nie auf diese Weise politisiert waren. Es war der Zusammenschluss dreier Gruppen: die jungen Stadtbewohner der Mittelschicht, die linken Fraktionen (darunter auch die anti-kapitalistischen Moslems) und die sog. Çars¸ı - eine Ultra-Gruppe von Anhängern des Fußballklubs Bes¸iktas¸. Sie alle kamen ohne Waffen und bekamen dafür Tränengas. Kein Wunder, dass sich der Widerstand so schnell auch auf die anderen Städte ausbreitete. Warum aber die Paralyse der Machthaber? Warum die Machtblindheit nach erst zehn Jahren an der Macht? Vielleicht liegt es daran, dass die Regierung den Einfluss der Armee im Staat erfolgreich zurückgedrängt hat. Dies erzeugt einen gewissen Rausch und eine Lähmung, die eine Politik, die darüber hinausgeht, verhindert.

Polarisieren statt vereinen

Anstatt der Entwicklung Verständnis entgegenuzubringen, kam eine Antwort mit autoritären Polizeimethoden, die man in einem normaldemokratischen Land nicht antrifft: Exzessive Verwendung von Tränengas, das Abfeuern von Gaskapseln auf die Demonstrierenden, Aufstellung von zivilen Polizisten mit nägelbesteckten Knüppeln und vieles mehr. Der Premier polarisierte anstatt zu vereinen.

Die Aussagen von Verantwortlichen wechselten, oft taten sie genau das Gegenteil von dem, was sie vorher verlautbart hatten. All dies zeigt die Angst und Hilflosigkeit der Verantwortlichen, das Gegebene zu verstehen und einzuordnen. Wie reagierten die Demonstranten? Mit Gewaltlosigkeit. Jeden Abend wurden alle Teilnehmer aufgerufen, die Polizei nicht anzugreifen, auch wenn man mehrfach provoziert würde. So war am Ende auf der einen Seite eine autoritäre Mentalität zu sehen, die die Fähigkeit verloren hat, Frieden zu schließen. Auf der anderen Seite aber stand eine Bewegung, die trotz ihrer Jugend mit einer erstaunlichen Reife ausgestattet war, und die um ein ziviles und friedliches Vorgehen bemüht war.

Es ist vor allem die junge Generation, welche die Bewegung des Protestes vorantreibt. Sie hat einen entwaffnenden Witz und nahm dem Machthaber das wichtigste Werkzeug: Das Privileg des Wortes. Der Witz höhlte die Aussagen der Regierung aus und nahm ihr die Sprachhoheit. Performance-Kunst hat der Bewegung nicht nur eine andere Sprachform verliehen, sie ist auch zu einem Ausweg, zur Vision geworden. Es geht ja hier auch um eine andere, neue Türkei, und was soll diese neue Türkei besser zeigen als die Kunst. Die ganze Welt ist überrascht, welches Potential sich da in Bewegung gesetzt hat.

Die Reaktion der EU, die weitere Annäherung der Türkei an die Union zu verhindern, ist ein Schlag gegen die Demonstranten, die sich ja eine Türkei, die weiter auf dem westlichen Kurs bleiben will, wünschen. Jetzt braucht die Türkei eine offenherzige, freundliche und subtile Hilfe. Eines der Transparente möchte hoffen: "Atmet tief ein, unser Jahrhundert beginnt“.

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