Eine Flüchtlingswelle, die niemals (an)kam

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Etwa 50.000 Flüchtlinge aus den arabischen Revolutionsländern kamen seit Februar in die EU. Der von Rechtsolitikern ausgerufene Ansturm blieb aus.

Als der italienische Innenminister Roberto Maroni von der rechtspopulistischen Lega Nord zusammen mit seinem Regierungschef Silvio Berlusconi sich im April dieses Jahres Richtung der Mittelmeerinsel Lampedusa aufmachten, versetzten sie damit Europa in helle Aufregung. Vor einem "Exodus biblischen Ausmaßes“, einer Schwemme von Tunesiern und Ägyptern warnten die beiden Politiker. Lampedusa müsse von den Zehntausenden Flüchtlingen "befreit“ werden, die in den Auffanglagern der Mittelmeerinsel festgehalten wurden.

Der mutmaßliche Ansturm führte zur Wiederaufnahme von Grenzkontrollen zwischen Italien und Frankreich, Dänemark installierte sogar dauerhafte Grenzkontrollen.

Heute, vier Monate nach den Kriseninnenministerräten in Brüssel und der Aufweichung von EU-Grundrechten ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Auffälligkeiten begleiteten die Recherche: Bei einigen Ländern wie Deutschland, Österreich oder Belgien sind Fakten und Daten leicht zugänglich. Diese Länder verfügen über eine monatliche Asylstatistik. Erstaunlich: Gerade jene Länder, die im Mai am lautesten Alarm schlugen, also Frankreich und Italien, machen ihre aktuellen Daten nicht öffentlich zugänglich.

Die einzig zuverlässigen Quellen, die es diesbezüglich im Süden Europas gibt, ist das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen, dessen Mitarbeiter: Aus ihren Daten ergibt sich ein eindeutiges Bild. Christoph Pinter, Chefjurist des UNHCR spricht von "Zahlen, die deutlich unter den offiziellen Erwartungen liegen“. Seit Jänner 2011 landeten insgesamt 50.000 Flüchtlinge aus Nordafrika auf den Mittelmeerinseln des Nachbarn. Davon wurde der Großteil auf Basis eines Abkommens zwischen Tunesien und Italien wieder abgeschoben. Sind 50.000 zu viel für Europa, das derzeit 1,6 Millionen Asylwerber beherbergt? Jährlich, so die Schätzungen der UNO, versuchen über 500.000 Menschen mithilfe von Schleppern nach Europa einzureisen. Faktum ist auch, dass die Zahl der Asylwerber in Europa abgenommen hat. Zuletzt weisen die Statistiken 2010 einen Rückgang um mehr als 40.000 Ansuchen auf. Besonders interessant ist die Entwicklung in Österreich, dessen Innenministerin Johanna Mikl Leitner sich noch im Mai für "anlassbezogene Grenzkontrollen“ ausgesprochen hatte. Mit Stand erster September gab es 118 Asylwerber aus Tunesien, 83 aus Ägypten, und 41 aus Libyen - insgesamt also 243 Nordafrikaner. Das sind im Verhältnis zu insgesamt 8.900 Asylwerbern etwa drei Prozent. Was das Wort "Ansturm“ bedeuten kann, mag ein Vergleich mit den 90er-Jahren zeigen, als Österreich 90.000 Bosnien-Kriegsflüchtlinge in Bundesbetreuung nahm - und das ohne Probleme bewältigte.

Kein Exodus, viel Frontex

Bezüglich Deutschland und Belgien zeigt sich ein sehr ähnliches Bild: Von einem Exodus an Nordafrikanern kann auch dort nicht die Rede sein.

Eine Ausnahme bilden hier 1603 Syrer (in Österreich 228), die seit Jänner dieses Jahres einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel in Deutschland gestellt haben. Die übrigen Revolutionsländer befinden sich nicht unter den zehn Hauptherkunftsnationen, was nach Auskunft des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bedeutet, dass aus keinem nordafrikanischen Land mehr als 600 Menschen um Asyl angesucht haben. Belgien hat bisher als einziges Land innerhalb der EU das Thema Immigration aus den Revolutionsländern thematisiert. Im Asylbericht zum Monat August heißt es explizit: "Die Zahl der Asylwerber aus den Staaten Ägypten (13), Libyen (5) und Tunesien (4) bleibt sehr niedrig.“ Das hat allerdings auch mit der rigiden Abschiebung von Flüchtlingen aus Italien zu tun und dem Einsatz der Europäischen Frontex-Agentur.

Ausweisung und Frontex sind die bisher einzigen Konzepte, die Europa im Umgang mit einreisesuchenden Bürgern aus den Revolutionsländern anwendet, was Migrationswissenschaftlern wie Heinz Fassmann zu wenig ist (Interview).

Postskriptum: Mit relativ geringem öffentlichem Unmut trägt die EU die Last der Flüchtlingsströme, die zu den Folgen Koalitionskriegen gegen den Terror zählen. Die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak übersteigen jene der anderen Länder um ein Vielfaches. In der Bundesrepublik warten 5424 Afghanen und etwa 4000 Iraker auf einen Asylbescheid.

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