Eine Partei zeigt Ecken und Kanten

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aber nicht nur: In der politischen Praxis muss die ÖVP halten, was sie in der theorie verspricht. Eine Ermahnung anlässlich der Erarbeitung des neuen Parteiprogramms.

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aber nicht nur: In der politischen Praxis muss die ÖVP halten, was sie in der theorie verspricht. Eine Ermahnung anlässlich der Erarbeitung des neuen Parteiprogramms.

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Zu ihrem 70. Geburtstag beschenkt sich die ÖVP mit einem neuen Grundsatzprogramm. Es soll an die Stelle des 20 Jahre alten, sprachlich hochstehenden und viele Entwicklungen antizipierenden "Wiener Programms" treten und auf neue Herausforderung in Staat und Wirtschaft sowie Wissenschaft und Gesellschaft reagieren.

In der Struktur lehnt sich das Papier eng an das bestehende Programm an: Einer kurzen Selbstcharakterisierung - im vorliegenden Entwurf missverständlich "Unsere Grundsätze" genannt - folgen Menschenbild und die aus diesem resultierenden "Kernwerte". Auf Basis eines "christlich-humanistischen Menschenbilds" ist "die Achtung des Menschen und der Menschenwürde" Ausgangspunkt des politischen Denkens und Handels der sich "christdemokratisch" definierenden Partei. Bewusst setzt das Programm der Politik auch Grenzen, die mit der Unvollkommenheit des Menschen sowie der Begrenztheit seiner Gestaltungsfähigkeit begründet werden.

Reduzierter Grundwerte-Kanon

Der Kanon an Grundwerten (alias "Kernwerten") wurde gegenüber dem bisherigen Programm reduziert: Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit (als Sonderform der Verantwortung), Leistung, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit finden sich wieder. Mit Recht fehlen nunmehr die (1995 auf expliziten höheren Wunsch hineinreklamierten) Begriffe Sicherheit und Toleranz, allerdings auch die Topoi Partnerschaft und Partizipation, die auf eine längere Tradition in der ÖVP-Programmgeschichte zurückblicken können.

Am Übergang zu den konkreten Politikfeldern fokussiert der Text das "Selbstverständnis" der ÖVP unter anderem als "christdemokratisch geprägte Volkspartei", als "Partei der Ökosozialen Marktwirtschaft" oder als "Europapartei", wobei eine prägnante Reduktion auf weniger selbst zugeschriebene Eigenschaften an dieser Stelle eindeutig mehr gewesen wäre.

Der konkretisierende Teil "Unsere Ziele und Anliegen" folgt ebenfalls dem Aufbau des bisherigen Programms mit Kapiteln zu "Demokratie und Staat", "Ökosoziale Marktwirtschaft", "Gesellschaft und Generationen", "Leben und Umwelt", "Bildung und Kultur" sowie "Europa und die Welt" (der Begriff "Heimat" wurde nunmehr weggelassen und droht wiederum von weit rechts stehender Seite vereinnahmt zu werden).

Für "klare Regierungsverhältnisse"

An einigen Stellen zeigt sich ein erfreulicher Mut zu programmatischen Ecken und Kanten: Neben der Stärkung der direkten Demokratie insbesondere auf lokaler Ebene spricht sich der Text für ein Wahlrecht aus, das "klare Regierungsverhältnisse unterstützt". Die explizite Nennung des Mehrheitswahlrechts fiel offenbar parteiinternen Ressentiments mancher Ländervertreter zum Opfer. Im Bereich der Netz- und Datenpolitik erwähnt der Entwurf den Kampf gegen Cyberkriminalität. Ein Hinweis auf den verantwortungsvollen Umgang mit dem und im Netz hätte an dieser Stelle durchaus noch Platz (und wäre gerade dem "Kernwert" Verantwortung geschuldet). Die Bedeutung von Kirchen und Religionsgemeinschaften für Sinnstiftung sowie für Bildung und karitatives Engagement wird extra und mit dem impliziten Verweis auf das Böckenförde-Diktum hervorgehoben. Folgerichtig setzt sich das Programm für religiöse Bildung auch in der Schule und die Verpflichtung der nicht am Religionsunterricht Teilnehmenden zum Besuch eines Ethik-Unterrichts ein.

Erfreulicherweise hält das Papier den Gedanken einer ökologisch und sozial abgefederten Marktwirtschaft auch im vorliegenden Papier aufrecht. Neben einigen eher interessenpolitisch geleiteten Aussagen schreibt es eine "ökosoziale Steuerpolitik" sowie einen Verschuldungsstopp für "unser Land" (was hoffentlich auch Bundesländer und Kommunen umfasst!) fest. Zu begrüßen ist das Bekenntnis zum "Eigentumsaufbau". Ob das auch die Wiederbelebung der alten Forderung nach verstärkter Mitarbeiterbeteiligung bedeutet, bleibt offen.

Im Zentrum der Gesellschafts-und Generationenpolitik stehen Chancengerechtigkeit und Eigenverantwortung (die manchmal auf Kosten der Solidarität mit Schwächeren etwas überstrapaziert wird). Neben den - erwartbaren -familienfreundlichen Darlegungen gibt es ein klares Bekenntnis zur Integration von Menschen mit Behinderungen und zu einer aus öffentlichen Mitteln finanzierten "qualitätsvollen Pflege im Alter". Im Bereich des Sozialstaates spricht sich das Papier für mehr Transparenz, das Prinzip Vorsorge und "zumutbare Eigenleistungen" (etwa Selbstbehalte) aus. Ausführungen, wie mit der gerade in diesem Bereich ständig wachsenden Sammlung sensibler Daten (Stichwort "gläserner Mensch") verantwortlich und nachhaltig umgegangen werden sollen, fehlen völlig.

Weiterhin bekennt sich das Programm zur uneingeschränkten Achtung vor dem geborenen und ungeborenen menschlichen Leben. Dabei thematisiert es auch die "ethischen Herausforderungen" durch die Möglichkeiten der Biotechnologie: "Nicht alles, was technisch möglich ist, ist ethisch richtig." Der Wunsch nach "Rahmenbedingungen, die Abtreibungen vorbeugen" ist ebenso verankert wie ein Nein zur aktiven Sterbehilfe.

Erhalt des Gymnasiums

Deutlich spricht sich der Entwurf für "eine differenzierte Schule, die den unterschiedlichen Begabungen und Interessen der Kinder entspricht", aus, was den Erhalt des Gymnasiums miteinschließt. Universitäten soll es unter anderem möglich sein, "je nach Studienrichtung sozial verträgliche Studienbeiträge und Zugangsregelungen" einzuführen. An dieser Stelle vermisst man aber deutliche Worte gegen ausufernde Aspekte der Ökonomisierung des tertiären Sektors ("Employability") und ein klares Bekenntnis zur Erhaltung der "Universitas".

Unter dem Stichwort "Europa der Einheit in Vielfalt" redet der Entwurf einer Weiterentwicklung und -vertiefung der Union das Wort, unter anderem durch Schaffung einer europäischen Armee. Geflissentlich verschwiegen wird dabei deren Inkompatibilität mit der Neutralität. Aussagen zur Nachbarschaftspolitik, zur Rolle Österreichs in Mitteleuropa -1995 noch ein wichtiger Programmpunkt -sucht man vergeblich. Dafür räumt der Text aber einer engagierten Entwicklungszusammenarbeit nicht nur unter dem Aspekt der Menschenwürde, sondern auch als "Schlüssel zu Frieden, Stabilität, Prosperität und geordneter Migration", breiten Raum ein.

Gerade das letzte Beispiel -bedenkt man den im internationalen Vergleich beschämenden Beitrag Österreichs zur Entwicklung -zeigt pars pro toto das ganze Dilemma der ÖVP auf: Theorie und Praxis klaffen oft meilenweit auseinander! Mit dem neuen Programm bleibt die Partei ihrem Selbstverständnis als christdemokratische Partei sowie ihren Grundsätzen treu. Ja, der Text weist an einigen Stellen pointierte "Ecken und Kanten" auf, bleibt -wie oben dargestellt -anderswo aber programmatisch zwingende Aussagen schuldig. Im politischen Alltag verwässert die ÖVP ihre Grundsätze nicht nur in der Regierungsarbeit (das wäre angesichts eines gleich großen Koalitionspartners ja noch irgendwie nachzuvollziehen), sondern schiebt diese zugunsten regionaler und standespolitischer Klientelinteressen zur Seite. An der politischen Praxis wird das Programm jedoch zu messen sein!

Christian Mertens arbeitet als Wissenschaftler und Publizist in Wien. Im Herbst erscheint bereits zum dritten Mal das gemeinsam mit Thomas Köhler herausgegebene "Jahrbuch für politische Beratung".

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