Eine Politisierung der Religion von oben

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Der türkische "Laizismus" ist eine staatlich verordnete Verwaltung des sunnitischen Islam. Das kommt auch der regierenden AKP und Recep Tayyip Erdog an zupass.

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Der türkische "Laizismus" ist eine staatlich verordnete Verwaltung des sunnitischen Islam. Das kommt auch der regierenden AKP und Recep Tayyip Erdog an zupass.

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Das Verhältnis zwischen der kemalistischen Republik Türkei und dem sunnitischen Islam ist von Widersprüchlichkeit, Reziprozität und obskurer Abhängigkeit gekennzeichnet. Auch die republikanische Politik Atatürks und dessen Nachfolger konnten sich im Zuge der Staatsgründung nicht einfach von Religion trennen. Mit politischer Raffinesse und strategischem Kalkül wurde der sunnitische Islam politisch gebraucht, als Legitimationsressource gezielt modifiziert, inszeniert und verwaltet. Das kemalistische Staatskonzept räumt dem sunnitischen Islam trotz Laizismus eine dominierende Rolle ein.

Unter dem Konzept des türkischen Laizismus verbirgt sich eine staatlich verordnete Verwaltung des sunnitischen Islam. Dieses Modell fördert damit eine Politisierung der Religion von oben, was identisch ist mit der Instrumentalisierung des Islam für politische, soziale oder wirtschaftliche Ziele. Ziel der Gründer der türkischen Republik war es, die Dominanz des Türkentums mit einer religiösen Einheitlichkeit zu verstärken und dadurch nationale Identität sowie territoriale Integrität zu befestigen. Seit 1937 ist der Laizismus in der türkischen Verfassung verankert. Keineswegs will sich der Staat aus religiösen Angelegenheiten heraushalten, vielmehr möchte er eine neue Auslegungstradition einführen. Atatürk machte aus seinen religiösen Transformationsplänen während des türkischen Befreiungskrieges kein Geheimnis, gleichzeitig versprach er mehr Autonomie für Kurden oder Aleviten.

Die "Türkische Geschichtsthese"

1924, ein Jahr nach der Staatsgründung, wurde das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Bakanligi) gegründet. Dieses ist verantwortlich für die Beaufsichtigung und "Förderung" religiöser Literatur sowie die Verwaltung geistlicher Ämter. Finanziert wird dies vor allem durch Steuergelder. Religiöse Gruppen, die nicht zum sunnitischen Islam gehören, erhalten keine Subventionen. Zusätzlich zu seinen Aufgaben hatte das Präsidium auch die 1931 ins Leben gerufene "Kommission zur Untersuchung der türkischen Geschichte" und die von ihr verbreitete "Türkische Geschichtsthese" zu unterstützten. Laut dieser sind die Türken eine der ältesten Zivilisationen der Welt und die Ureinwohner Anatoliens. Damit wird ein pseudoreligiöser nationalistischer Mythos in die Welt gesetzt. Von Anfang an sorgte die kemalistische Führung dafür, dass der sunnitische Islam (inoffiziell) zur Staatsreligion wurde. Bis zum Ausbruch des Kalten Krieges war es das Ziel der laizistischen Republik, die Reste einer multireligiösen oder multiethnischen Erinnerung aus den Köpfen der türkischen Bürger zu löschen.

Mit dem Übergang zum Mehrparteiensystem ab 1950 nahm dieser Prozess eine neue Wendung. Für die Türkei bedeutete dies auch, dass Parteien mit einem explizit nationalistisch-islamischen Programm vom kemalistischen Religionsverständnis profitieren konnten. So begann -immer noch im Kontext eines laizistischen Staatsverständnisses -ein Wettstreit kemalistischer und islamisch-konservativer Parteien um die bestmögliche Verwertung der Religion für die eigenen Interessen.

Dies erleichterte es der in den 1950er-Jahren größten politischen Partei DP, den sunnitischen Islam aus dem Würgegriff der kemalistischen CHP zu befreien. Die Wiedereinführung des arabischen Gebetsrufs, die Neugründung von Koranschulen, islamische Radiosendungen, die Subventionierung von Moscheen etc. sollten die Sympathien und Offenheit der DP gegenüber der Religion demonstrieren. Während einzelne muslimische Stimmen öffentlich zur Abkehr vom Laizismus aufriefen, nutzte die DP das staatliche Religionsmonopol, um ihre Politik durchzusetzen -genauso wie dies die kemalistische Politik vor 1950 tat.

Islam und Nationalismus

Die Maßnahmen der DP in den 1950er-Jahren zielten damit nicht auf eine Trennung von Religion und Staat, sondern darauf, sich eine unangreifbare Machtposition als Religionsautorität und Regierungspartei zu sichern. Bis in die 1980er-Jahre versuchten Regierungs- und Oppositionsparteien auf unterschiedliche Weise, ihre politische Haltung mit dem sunnitischen Islam und türkischen Nationalismus in Einklang zu bringen.

1980 putschte das türkische Militär zum dritten Mal. Soziale Herausforderungen, innenpolitische Instabilität, Massenarbeitslosigkeit, außenpolitische Entwicklungen und das Erstarken des Islam weltweit waren für das Eingreifen der Militärs verantwortlich. Der Sturz des Schah-Regimes im Iran führte dazu, dass Anhänger von Necmettin Erbakan sich offen für eine Transformation der kemalistischen Republik in eine islamische aussprachen. Die Militärführung war der Überzeugung, dass die kemalistischen Prinzipien wiederbelebt und explizit mit dem sunnitischen Islam verknüpft werden müssten. Im Schatten der Reagan-und Thatcher-Ära wurde die "Türkisch-Islamische-Synthese" entwickelt. Ihr zufolge gelangten die Turkvölker erst mit der Übernahme des Islam zur Vollendung. Die ethnische wie auch die religiöse Homogenisierungspolitik des Kemalismus kam nämlich in den 1980er-Jahren an ihre Grenzen.

Undemokratischer Laizismus

Ganz im Gegensatz dazu hat es nun die AKP verstanden, ihre islamisch-konservative Politik und Laizismus miteinander zu verbinden. Die AKP betreibt eine islamischkonservative Politik und setzt konservative Moralvorstellungen durch, ohne dabei auf eine explizit religiös-konservative Rhetorik zurückzugreifen und sich somit in Konflikt mit laizistischen Grundsätzen zu bringen. Ihr Slogan "Ein Volk, ein Staat und eine Fahne" signalisiert, dass sie der kemalistischen Homogenisierungspolitik keineswegs den Rücken gekehrt hat. Parallel dazu betreibt sie eine konservative Politik in Anlehnung an den sunnitischen Islam. Hierfür verwendet sie den Spruch: "Der Staat ist laizistisch, die Subjekte sind es nicht." Auch hat die proeuropäische Politik der AKP maßgeblich dazu beigetragen, dass das politische System weitaus demokratischer wurde als in der Vergangenheit. Ganz deutlich wird dies mit Blick auf die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien (1993), das Erstarken kurdischer Parteien, Verbot der Todesstrafe und Öffnung gegenüber kurdischer Kultur bzw. der Etablierung kurdischer Studien an einigen Universitäten.

Trotz der zweifellos positiven politischen Transformation zeigen die Entwicklungen seit Beginn des Arabischen Frühlings 2010, wie fragil die türkische Demokratie ist. Aufgrund massiver Veränderungen auf regionaler Ebene und dem mit einer pluralistischen Demokratie unvereinbar konzipierten Laizismuskonzept läuft die Türkei Gefahr, alle ihre wichtigen demokratischen Erfolge und Errungenschaften zu verlieren. Bis heute beschwören laizistische wie islamisch-konservative Parteien die Gefahr einer gesellschaftlichen Zersplitterung sowie der territorialen Auflösung der Türkei. Bei näherer Betrachtung begünstigt das türkische Laizismuskonzept somit eine dezidiert autoritäre Einhegung und Vereinnahmung demokratischer Errungenschaften.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa

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