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Eine Reform auf Probe

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Wir finden derartige, ausgezeichnet funktionierende und die Staatskasse dennoch nicht belastende Systeme in Belgien oder in der Schweiz, in Frankreich oder in Australien, ja in den sozialdemokratisch regierten skandinavischen Ländern. Aber wir müssen gar nicht ins Ausland gehen. Die Krankenversicherungsanstalt der Bundesangestellten etwa, die sogenannte „Bundeskasse“, kennt ein echtes Leistungshonorar für den Arzt und echte, das System sozusagen automatisch kontrollierende Kostenbeteiligung des Patienten. Ja, die oberösterreichische Lehrerkrankenkasse bietet ihren Pflichtmitgliedern sogar völlig freie Arztwahl. Schließlich ist das seit 1956 immer mehr verbreitete „Wahlarztsystem“ ein Beweis, daß es auch ohne Einzelvertrag, ohne Betrugsdreieck, geht.

Das nächstliegende Beispiel aber ist — der „vertragslose Zustand“, der seit 18. April 1962 eine „Reform auf P/obe“ im Bereich der Wiener Gebietskrankenkasse ermöglicht, wie sie selbst durch monatelange Verhandlungen kaum zu erreichen gewesen wäre: Die Punkte 1, 2, 7, 8 und 9 dieses Programms sind eigentlich jetzt schon erfüllt, die Punkte 4 und 5 wenigstens teflwe.

Auf Wunsch der Krankenkassen begann der vertragslose Zustand über Gerichtsbeschluß erst am Mittwoch in der Karwoche. Ernste Verhandlungen sind daher wohl erst nach dem Weißen Sonntag zu erwarten. Zu dieser Zeit aber steht die Wiener Ärzteschaft bereits mitten im Wahlkampf, und schon am 19. Mai werden 5300

— nicht nur die 1700 ehemaligen Vertragsärzte! — die neue Ärztekammer zu wählen haben. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß der vertragslose Zustand mit Wahrscheinlichkeit über den 19. Mai hinaus und vielleicht noch länger andauern wird.

Den praktischen Ärzten und Fachärzten Wiens muß man also raten, sich so rasch wie möglich in das neue System einzuarbeiten, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Privilegierung der Vertragsärzte mit 18. April schon aufgehört hat. Seither sitzen zwar weniger Patienten im Wartezimmer, aber dafür meist solche, die des Arztes wirklich bedürfen, von ihm echte Leistung erwarten, aber auch bereit sind, sie zu honorieren. Daß kein Arzt in Wien in echten medizinischen oder sozialen Notfällen nach dem Honorar fragen wird, ist selbstverständlich.

Den Mitgliedern der vom vertragslosen Zustand betroffenen Krankenkassen aber kann man sagen: Das seit 18. April bestehende System ist für Sie neu, bringt Ihnen aber genau betrachtet schon jetzt mehr Vorteile als Nachteile. Denn es stimmt ja nicht, daß Sie jetzt gleichsam doppelt bezahlen müssen, zuerst den Kassenbeitrag und dann nochmals beim Arzt. Den Krankenkassenbeitrag, der nur einen kleinen Teil Ihrer gesamten Lohn- oder Gehaltsabzüge ausmacht, zahlten Sie ja schon bisher nur mit etwa einem Viertel für allfällige Arztkosten, zu drei Viertel aber für Heilkosten anderer Art, also Medikamente,

Spital, Krankengeld usw. Und von dem, was Sie jetzt für den Arzt zu bezahlen haben, bekommen Sie eben aus jenem Viertel Ihres Kassenbeitrages genau das zurück, was der Arzt vor dem 18. April für Ihre Beratung und Behandlung von der Krankenkasse bekommen hätte. Wie wenig das war, werden S i e nun spüren und daher verstehen.

Den Politikern aber von rechts und links, den ärztlichen Standesvertretern und den Funktionären der Sozialversicherung sei zugerufen: Heraus aus der Sackgasse der Gesundheitspolitik! Mut zu echten Lösungen — ohne allzuviel Rücksicht auf Privilegien oder Machtstellung, sondern im Interesse jedes einzelnen und aller Mitbürgerl

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