Eine Zeit, die spannende Ereignisse frei Haus lieferte

19451960198020002020

Ein großer Fund: Das letzte Buch von Sebastian Haffner entstand vor 60 Jahren in England.

19451960198020002020

Ein großer Fund: Das letzte Buch von Sebastian Haffner entstand vor 60 Jahren in England.

Werbung
Werbung
Werbung

Manchmal kann man seinen Seelenfrieden nur retten, indem man ihn preis gibt." Ein Kernsatz in dem bemerkenswerten Buch "Geschichte eines Deutschen" von Sebastian Haffner.

Der berühmte deutsche Publizist Haffner, Jahrgang 1907, Sohn eines hohen preußischen Beamten, starb 1999. In seinem Nachlass fand sich ein unveröffentlichtes Manuskript, das er unmittelbar nach seiner Emigration in London verfasst hatte. Der damals 32-Jährige hatte versucht, die Ereignisse in Deutschland vom Ersten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu analysieren.

Ihm bot sich das Bild einer verdorbenen Generation. Alle Deutschen, die zwischen 1890 und 1910 zur Welt kamen, wuchsen in einer Zeit auf, die große, spannende Ereignisse frei Haus lieferte: Einen begeistert begrüßten Krieg, die krankhafte Überheblichkeit einer ganzen Nation, vier Jahre später die Ernüchterung, ein wegen Aussichtslosigkeit abgebrochener Krieg. Dann die galoppierende Inflation, der Zusammenbruch aller Traditionen und Werte im Deutschland der zwanziger Jahre. Die Spannung der Kriegsberichte wurde jetzt durch einen nationalen Sportfimmel ersetzt. Diese Generation wuchs mit Hunger und Entbehrung auf, aber nicht in Langeweile. Dagegen wurde die Friedenszeit zwischen den Kriegen von vielen nicht als Geschenk, sondern als Beraubung empfunden: "Sie begannen sich zu langweilen, sie kamen auf dumme Gedanken, sie wurden mürrisch - und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung, den ersten Rückschlag oder Zwischenfall, um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten."

Diesen kollektiven Wunsch, meint Haffner, erfüllte Adolf Hitler: "Die Masse reagiert am stärksten auf den, der ihr am unähnlichsten ist. Normalität, gepaart mit Tüchtigkeit, mag populär machen; aber letzte Liebe und letzter Hass, Vergottung und Verteufelung, gilt nur dem äußerst Abnormalen, der Masse ganz Unerreichbaren. Wenn irgend etwas, glaube ich dies aus meiner deutschen Erfahrung zu wissen."

Sebastian Haffner kam aus einer guten deutschen Mittelklasse-Familie. Sein Vater wollte aus ihm einen erstklassigen deutschen Juristen machen. Erzogen wurde er sozusagen für eine bereits vergangene Epoche, denn was auf den jungen Mann zukam, traf ihn völlig unvorbereitet. Gebildete Deutsche nahmen Hitler zunächst überhaupt nicht ernst. Sie glaubten an einen vorübergehenden Spuk, weil sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass ein so primitiver Mensch an die Spitze einer Kulturnation gelangen könnte.

Noch 1933, bei den letzten freien Wahlen, stimmten 56 Prozent der Deutschen gegen Hitler. Doch dann begann der Terror. Haffner schildert anhand von Beispielen, wie die Menschen aus Furcht, aus Resignation, aus Zorn auf die total versagende Linke, zu Hitler-Gefolgsleuten wurden. Feigheit triumphierte.

Der junge Mann, kein Held, kein Märtyrer, mochte die Nazis von Anfang an nicht. Er ließ sich auf einen Kampf zwischen sehr ungleichen Gegnern ein: "Einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann. Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat von dem Privatmann, dass er seine Freunde aufgibt, seine Freundinnen verlässt, seine Gesinnungen ablegt, vorgeschriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er es gewohnt ist, anders isst und trinkt, als er es liebt, seine Freizeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut, seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die er ablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, und für alles dies ständig äußerste Begeisterung und Dankbarkeit an den Tag legt." Haffner betrachtete sich zeitlebens und auch in der Nazi-Ära als guten Deutschen. Gerade weil er stolz auf sein Land war, die Objektivität deutschen Denkens, den Ernst, die Wahrheitsliebe, die Selbskritik, die Humanität, die Gutmütigkeit, verabscheute er die nationale Selbstbespiegelung und Selbstanbetung. Den krankhaften deutschen Nationalismus erkannte er als so gefährlich, so abstoßend und zerstörerisch, dass er ohne äußeren Zwang seine Heimat verließ.

Er fand Arbeit als Journalist bei der englischen Zeitung "Observer", kehrte 1954 nach Deutschland zurück, schrieb für "Die Welt", später für den "Stern" und gewann als Verfasser von historischen Büchern ("Churchill", "Anmerkungen zu Hitler", "Von Bismarck zu Hitler") eine große Leserschaft. Seine "Geschichte eines Deutschen" zeigt einen klugen, scharf beobachtenden jungen Mann, dessen private Geschichte eben nicht nur privat ist. Hunderttausende Deutsche standen vor derselben Entscheidung wie Haffner: mitmachen in einem alle Sphären des Lebens durchdringenden verbrecherischen System - oder emigrieren, sich zurückziehen. Der Gefahr, für eine inhumane Ideologie zu sterben, entzog sich Haffner, aber das wusste er nicht, denn er ging nach England, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach.

Die Zahl der Bücher über das NS-Regime ist längst nicht mehr überschaubar. Was dieses soeben erschienene Buch wichtig macht, ist seine Unmittelbarkeit. Normalerweise ist das Leben des Einzelnen zwar von politischen Entscheidungen betroffen, doch nicht in allen Bereichen. Wie furchtbar die Existenz werden kann, wenn die Grenze zwischen Privatem und Politik aufgehoben wird, wenn der Einzelne nichts mehr gilt und die Ideologie alles, das wird aus diesem Bericht erschreckend klar. Ein Fund!

Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914 - 1933 Von Sebastian Haffner, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000 240 Seiten, geb., öS 263,-/e 19,11

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung