Einer gegen 82 Millionen

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Der Bremer Murat Kurnaz hat fünf Jahre lang in Guantánmo gelitten - unschuldig. Nur weil ein paar Politiker ruhiger schlafen wollten?

Bei uns geht's um die Haut, in Deutschland geht's um die Wurst. Die österreichischen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu Eurofighter-Beschaffung und Banken-Aufsicht sind richtig und wichtig. Befürchtungen, die nationale Sicherheit oder der gute Ruf der österreichischen Banken würden dadurch ruiniert, haben sich allesamt nicht bewahrheitet. Vielmehr ist auf militärischer und monetärer Seite ein Sittenbild zutage getreten, das zu untersuchen wert, zu kritisieren überfällig und zu reformieren dringend ist - angefangen bei Ministern, die mit Wurfpfeilen das rotierende Konterfei ihrer Ministerkollegen abschießen.

Aber auch wenn es bei diesen Untersuchungen um sehr viel Geld und wenig verantwortungsvollen Umgang damit geht, letztlich behandeln die österreichischen U-Ausschüsse - wie die Amerikaner sagen - Erdnüsse. Sie berühren wichtige Fragen, aber sie müssen nicht die entscheidende Frage stellen - daran haben gerade die Deutschen zu kiefeln, denn um die geht es im deutschen parlamentarischen Untersuchungsausschuss über die Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes zum Fall des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz. Und diese entscheidende Frage lautet: Was ist der Einzelne wert im Staat?

An der Beantwortung dieser Frage hängt nicht weniger als das Wohl und Wehe des Rechtsstaats. Der ist geschaffen, damit der und die Einzelne seine und ihre Stimme hat und gehört wird; damit die Minderheit auch gegen die Mehrheit zu ihrem Recht kommt. "Ein Staat ist nur dann legitim", sagt der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat, "wenn all sein Handeln auf das Wohl und die Menschenwürde der Menschen, die auf seinem Territorium leben, ausgerichtet ist, und zwar aller gleichermaßen."

Nach diesem Kriterium und wenn die Vorwürfe gegen die frühere rot-grüne Regierung und vor allem gegen den heutigen Außenminister Frank-Walter Steinmeier stimmen, handelte Deutschland nicht legitim. Denn das Wohl und die Menschenwürde des in Bremen geborenen Türken Murat Kurnaz wurden fünf Jahre lang mit Füßen getreten. 2004 hat die Furche den Rechtsanwalt des "Bremer Talibans" besucht und interviewt. Zu der Zeit war Kurnaz schon bald drei Jahre im "karibischen Gulag" eingesperrt - unschuldig, wie der Anwalt bereits damals betonte. "Wie eine Zeitreise ins Mittelalter", beschrieb der Kurnaz' Verteidiger den Fall, "wo es noch keine Menschenrechte gab und wo man sich mit absoluten Herrschern herumschlagen musste." Noch einmal zwei Jahre vergingen, bis Kurnaz im letzten Sommer endlich freigelassen wurde.

Stark aufgeheizte oder abgekühlte Isolationszellen, Sauerstoff-, Schlaf und Essensentzug, Kopf ins Wasser gedrückt, Elektroschocks, an Ketten aufgehängt, … Kurnaz' Schilderungen seiner Gefangenschaft zeigen Guantánamo als das was es ist: ein Affront gegen die Menschenrechte und eine Schande für die westliche Welt.

Doch nicht nur Bush & Co haben sich wie "absolute Herrscher" an Kurnaz vergangen, auch die frühere deutsche Regierung handelte nicht weniger menschenverachtend absolutistisch. Im Kern lautet der Vorwurf: Deutschland hat die frühzeitige Rückkehr von Kurnaz hintertrieben, obwohl die USA bereits 2002 meinten, der Bremer sei ungefährlich, eine Entlassung möglich. Als Ober-Hintertreiber angezeigt ist Frank-Walter Steinmeier. Der frühere Kanzleramtschef rechtfertigt sich: "Nach dem 11. September 2001 war unsere oberste Priorität, die Sicherheit von 82 Millionen Menschen in Deutschland zu garantieren" - und: "Ich würde mich heute nicht anders entscheiden."

82 Millionen Menschen gegen das Schicksal eines einzigen Mannes. Hat Steinmeier so gerechnet, dann hatte Murat Kurnaz keine Chance. Noch dazu, wo der Guantánamo-Häftling zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die Verantwortung für ihn aufgrund seiner türkischen Herkunft und Staatsangehörigkeit jedoch sehr leicht weitergeschoben werden konnte. Bloß, die Türkei fühlte sich ebenfalls nicht zuständig und Kurnaz musste weiter in der "tropischen Hölle" schmoren. Nur einer, damit 82 Millionen und ein paar Politiker ruhig schlafen konnten - aber selbst nur einer, ist einer zuviel.

wolfgang.machreich@furche.at

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