EINGEHOLT VON DER GEGENWART

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REALISTISCHE LITERATUR ÜBER ETWAS, "DAS FAST GESCHEHEN IST": EINE MAUER SOLL DEN KAUKASUS VON RUSSLAND ISOLIEREN.

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REALISTISCHE LITERATUR ÜBER ETWAS, "DAS FAST GESCHEHEN IST": EINE MAUER SOLL DEN KAUKASUS VON RUSSLAND ISOLIEREN.

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Dagestan, im Nordkaukasus am Kaspischen Meer: Wenn in westlichen Medien von dieser russischen Teilrepublik die Rede ist, dann geht es meist um militanten Islamismus, radikale Separatisten und Terroranschläge. Das problematische Zusammenleben vieler Ethnien, religiöse und politische Konflikte machen die Region mit fast drei Millionen Einwohnern zu einem der virulentesten Gebiete Russlands.

Dagestan ist auch die ursprüngliche Heimat der 1985 geborenen Autorin Alissa Ganijewa. Mittlerweile lebt sie in Moskau, ist als Literaturkritikerin tätig und gehört seit ihrem Debüt, der Erzählung "Salam tebe, Dalgat", auf Deutsch in der Anthologie "Das schönste Proletariat der Welt" nachzulesen, zu den gefragtesten jungen Schriftstellerinnen Russlands. In Russland preisgekrönt, wurde Ganijewa für ihren unter männlichem Pseudonym veröffentlichten Text in Dagestan mit Anfeindungen und Drohungen konfrontiert. Die dominanten Salafisten -die auch lautstark einen Übergang zur Scharia fordern -bezichtigten sie für ihr Porträt eines jungen Dagestaners als islamophobe Nestbeschmutzerin. Ihre engagierte Stimme als Journalistin und Intellektuelle wird auch in deutschsprachigen Medien gerne gehört.

Ganijewas ursprüngliche Heimat Dagestan ist auch der Schauplatz ihres ersten Romans "Die russische Mauer". Was einmal geäußert ist, zeitigt Wirkung, egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Und so setzt das durch die gebirgige Republik geisternde Gerücht, die Russen wollten einen Wall bauen, um den Kaukasus zu isolieren, eine Dynamik in Gang, die sich bald nicht mehr kontrollieren lässt. Nach einer kongruenten Fabel fahndet man vergeblich. Die Hauptfigur Schamil, Lokalreporter aus Alternativenlosigkeit, nicht aus Berufung, driftet mehr oder weniger ziellos durch das Dagestan der Gegenwart. Er betreibt Kampfsport, trifft Freunde, besucht politische Veranstaltungen, ohne sich einzumischen, eine Figur, der wenig Kontur verliehen wird.

Während Schamil eine weitgehend neutrale Haltung einnimmt, radikalisiert sich seine Freundin Madina und schließt sich den Salafisten an. Erst als der Wall tatsächlich gebaut wird, nimmt der Text an Tempo zu und entwickelt etwas mehr Spannung. Chaos bricht aus und der Leser wird in eine düstere Dystopie geworfen.

Kultureller und sozialer Mix

"Die russische Mauer" ist ein klassischer polyfoner Roman, der über keine in sich geschlossene Erzählinstanz verfügt. Figurenrede, einmontierte Buchtexte, Fernsehsendungen und Lieder konkurrieren hierarchielos mit der Erzählstimme, der so keine Deutungshoheit zugestanden wird. Die vielen arabischen, awarischen und anderen Ausdrücke, die in Fußnoten erklärt werden, stören zwar den Lesefluss, wirken dadurch aber auch entfremdend, sodass identifikatorische Lesarten unterlaufen werden. Ganijewas Roman ist vorrangig für ein russisches Publikum geschrieben, das wenig Bezug zu Dagestan und seiner vielseitigen Kultur hat. Noch viel fremder muss der kulturelle und soziale Mix einer westeuropäischen Leserschaft erscheinen; ohne Vorwissen sind sowohl Inhalt als auch die stilistische Ebene nur schwer zugänglich, was freilich auch seinen Reiz hat. Die Hauptfigur Schamil schafft für den Leser nur oberflächlich Kohärenz in diesem Textgewebe, denn mit der Ohnmacht des Protagonisten geht eine Orientierungslosigkeit einher, die vergeblich nach Ordnung sucht.

Der Bau einer gigantischen Mauer rund um den Kaukasus ist ein nicht unbedingt originelles, aber in seiner Einfachheit sehr wirkungsmächtiges Bild. Der parabelhaft simplen Symbolik des titelgebenden Mauerbaus folgt der Text ansonsten dankenswerterweise nicht, auch wenn der Plot, falls man von einem solchen überhaupt sprechen kann, auch nicht besonders einfallsreich ist.

In Ganijewas detailverliebte, manchmal fast beschreibungswütige Wirklichkeitsdarstellung -gerade Materialien wird ungewöhnlich viel Bedeutung beigemessen, was den historisch gewachsenen hohen Stellenwert von Eigentum in Dagestan spiegelt - ist eine märchenhafte Ebene eingezogen, die schlussendlich utopische Dimensionen annimmt. Sozialistischer und magischer Realismus werden miteinander verbunden, manchmal driftet der Text ins Parodistische ab. Passend zur utopischen Akzentuierung lautet der russische Originaltitel "Berg der Feste", während man sich für die deutsche Übersetzung offenbar für die zugespitzte und simplifizierende Platzierung als politische Parabel entschieden hat.

Ganijewas Roman ist ein Beispiel dafür, dass engagierte Literatur nicht sujetversessen auf Kosten ästhetischer Konzepte gehen muss. Nur leider geht das Konzept nicht ganz auf. Die anarchische Struktur des Textes hat zwar ihren Reiz und versucht formal zu brechen, was auf Inhaltsebene kritisiert wird. "Für uns ist Ende vom Gelände" lässt Schamil desillusioniert verlauten. Eine solche Figurensprache mag durchaus mimetisch sein, auf Dauer wirkt das Durcheinander sprachlicher Varietäten, von der Sprache der unzähligen Ethnien bis zum Politsprech und zum Jugendslang aber eher bemüht, das Geplauder der Figuren über Belanglosigkeiten irgendwann nur noch geschwätzig.

"Die russische Mauer" ist ein Buch, das über viele Qualitäten verfügt: ein interessantes, politisch brisantes Thema, ein durchdachtes und engagiertes poetisches Konzept, eine Autorin, die über handwerkliches Geschick verfügt. Doch die einzelnen Komponenten fügen sich nicht stimmig ineinander und bilden keine Synergien, der Text ist daher sperrig und unzugänglich.

Eine Mauer als Katalysator von Konflikten

Bleibt die politische Botschaft. Ganijewa selbst sieht ihr Szenario als denkbares an: "So denkbar, dass es unmöglich ist, mein Buch als phantastisch oder antiutopisch zu bezeichnen. Es ist realistische Literatur über etwas, das fast geschehen ist." Die Mauer, das wird deutlich, ist nicht verantwortlich für die Probleme in dem konfliktgebeutelten Land, aber sie wirkt wie ein Katalysator. Fundamentalismen wachsen gut auf angstverseuchter Erde, das ist nicht neu, kann aber nicht oft genug gesagt werden.

Die russische Mauer

Roman von Alissa Ganijewa, übers. v. Christiane Körner

Suhrkamp 2014 232 S., geb., € 23,60

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