Endlich Gegenwart im Land der Zukunft

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Brasilien gilt seit Jahrzehnten als Land der Hoffnung. Doch die Jubelmeldungen vom - bald schon - reichen und modernen Land scheinen verfrüht. Eine Analyse.

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Brasilien gilt seit Jahrzehnten als Land der Hoffnung. Doch die Jubelmeldungen vom - bald schon - reichen und modernen Land scheinen verfrüht. Eine Analyse.

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Eigentlich sollte sich Brasilien in diesen Monaten von seiner schönsten Seite zeigen, jetzt da die Welt auf das Land schaut - wie man so treffend sagt. Vergangenes Monat war Confederations Cup in den schönsten und teuersten Stadien des Landes. In dieser Woche ist der Papst beim Weltjugendtag in Rio zu Gast. Und nächstes Jahr soll die Fußballweltmeisterschaft stattfinden. Und dann? Randale auf den Straßen, Skandale in den Ämtern, Bürgerprotest auf allen Ebenen. Was ist los mit Brasilien?

An positive Meldungen aus Brasilien hatte man sich schon lange gewöhnt. Das größte Land Lateinamerikas war eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit. Die Nachfrage einer wachsenden Mittelschicht im 200-Millionen-Einwohner-Land hielt den Aufschwung in Gang, und laut dem Wirtschaftsprüfer PricewaterhouseCoopers wird Brasilien 2050 beinahe alle westlichen Wirtschaftsmächte überholt haben. Ein Bruttoinlandsprodukt von 8,8 Billionen Dollar würde das Land hinter den anderen emerging economies China, Indien sowie den USA zur viertgrößten Ökonomie der Erde machen. Die Neue Weltordnung unter Einfluss der BRIC-Staaten, einst von Ex-Präsident Lula angekündigt, wäre damit Realität.

Intern löste der Boom nicht nur Euphorie aus, sondern auch die beinahe ungläubige Feststellung, man könne nun das Versprechen vom país do futuro, vom "Land der Zukunft", endlich einlösen. Bis dahin war diese Bezeichnung mit dem ironischen Zusatz "für imme"" zu einem geflügelten Wort geworden.

Sozialpolitik und Umverteilung

Steigende Mindestlöhne und Programme wie Fome Zero zur Bekämpfung des Hungers und Bolsa Familia ("Familienbeihilfe", die armen Eltern Zuschüsse gewährt, deren Kinder die Schule besuchen und geimpft sind) trugen maßgeblich dazu bei, dass sich die Armutszahlen mehr als halbierten.

Diese Bilanz, so schien es, sollte nur die Basis sein für eine wahrlich goldene Zukunft. Als deren langfristiger Garant galten die gigantischen Erdölvorkommen, die in den letzten Jahren vor der Küste gefunden wurden.

Zu all dem passten Fußball-WM, Olympische Spiele und - auf symbolischer Ebene - der Weltjugendtag perfekt. Nicht zu vergessen das Image des sinnlich-lebenslustigen Tropenparadieses. Ausdruck findet dieser Trend in den Kult-Kapazitäten seiner gelben Fußball-Shirts oder elektronischer Bossa Nova-Adaptionen, dem internationalen Siegeszug der Caipirinha oder den Strandschlapfen des Labels Havaiana, bezeichnenderweise in Brasilien eines der trivialsten Produkte, das für wenig Geld in jedem Supermarkt erhältlich ist.

Nun kann all dies kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Probleme im Land noch immer beträchtlich sind. Den sozialen Errungenschaften der letzten Jahre steht entgegen, dass Brasilien bei der Verteilungs-Ungerechtigkeit weltweit noch immer an 16. Stelle liegt. Seinen Ausdruck findet dies auch in den krassen Kontrasten der Wohnverhältnisse.

Widersprüchliche Modelle

Hier stehen sich zwei Modelle gegenüber, die in den letzten Jahrzehnten immer mehr Menschen beherbergen: die Favela am unteren Ende der Skala und am oberen die mehr oder weniger geschlossene Welt der gated communities.

Viele Elendsviertel, wie in anderen südamerikanischen Ländern oft in die steilen Hänge abseits der Stadtzentren gebaut und daher auch morro ("Hügel") genannt, versucht man zur Zeit zu "befrieden" und zu sanieren - nicht zuletzt im Hinblick auf die zu erwartenden Millionen internationaler Besucher. Die Bekämpfung von Drogenkartellen fordert allerdings auch regelmäßig Opfer unter den Bewohnern, wie zuletzt im Juni in der Favela Maré in Rio de Janeiro.

Unterdessen ziehen sich Brasilianer von der Mittelschicht aufwärts immer lieber in die Sicherheit versprechende Welt hinter hohen Zäunen zurück. Die kompakten Appartementblocks der prédios sind räumlich noch in die Innenstädte integriert, wogegen die condomínios genannten weitläufigen Siedlungen in der Peripherie der Metropolen mehr oder weniger weitreichende, eigene Infrastruktur besitzen. Der Geograph Martin Coy von der Universität Innsbruck nennt diese Wohnform eine "sichtbare Konsequenz zunehmender sozialer Unterschiede und resultierender Fragmentierung des städtischen Raums".

Indigene ohne Aufschwung

Gänzlich vorbei geht der Aufschwung im Land auch an der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die mit 800.000 Personen allerdings weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung bildet und nicht nur räumlich marginalisiert ist. Die zum Teil gewaltsamen Landkonflikte eskalierten Ende Mai, als die Polizei im Bundesstaat Mato Grosso do Sul eine von Indios besetzte Farm räumte und dabei einen Aktivisten erschoss. Wenig später kam es zum lange erwarteten ersten Treffen zwischen Präsidentin Dilma Rousseff und indigenen Vertretern, auf denen die Landfrage und der Zugang zu Öffentlichen Dienstleistungen erörtert wurde.

Internationale Kritik schlägt der Regierung seit Jahren wegen ihrer Großprojekte entgegen, mit denen sie das Wachstum des Landes fördern will. Dazu zählen Minenlizenzen, Infrastrukturausbau oder das hochgradig umstrittene Staudamm-Vorhaben Belo Monte im Amazonas-Gebiet, die allesamt erheblichen Einfluss auf die Lebensbedingungen indigener Gruppen haben.

In das euphorische Lied vom Aufschwung mischen sich zudem erhebliche Misstöne, seit der Wachstumskurs 2011 ins Schlingern geriet. Erst lag er noch bei 2,7 Prozent, bevor er im vergangenen Jahr auf 0,9 Prozent absackte. Schwerer drückt auf die Stimmung, dass der erwartete Wiederanstieg auf sich warten lässt.

Während die Regierung für 2013 von 3 Prozent ausging, korrigierte etwa Tony Volpone, Experte für Emerging Markets bei der japanischen Investmentbank Nomura, die Aussichten nach unten: 2013 erwartet er 1,6 Prozent im WM-Jahr 2014 1,8 Prozent.

Finanzfachblätter warnen bereits seit 2012 vor einem "Ende" des Aufschwungs. In den vergangenen Monaten hat sich daraus ein wahrer Abgesang entwickelt. Zu sehr sei Brasiliens Ökonomie noch von Rohstoffexporten abhängig und damit anfällig für Schwankungen, verursacht durch die Nachfrage Indiens und vor allem Chinas und die Preisentwicklung auf dem Weltmarkt. Kritisiert werden auch zu hohe Zölle (Brasilien setzt weiterhin auf den riesigen Binnenmarkt), Fachkräftemangel und niedrige Produktivität.

Die Temperatur der Straße

Wie sehr gerade Brasilien am Wachstum seiner Volkswirtschaft hängt, wird durch das entsprechende Junktim der regierenden Arbeiterpartei klar: der Boom sind die Füße, auf denen die ambitionierten Programme zur Armutsbekämpfung stehen. Ein schwererer Einbruch könnte langfristig auch deren Fortbestand in Frage stellen.

Auch in diesem Licht ist die Äußerung von Dilma Rousseff zu sehen, als die jüngsten Proteste eskalierten: laut der führenden Tageszeitung Folha De S.Paulo wollte die Präsidentin "die Temperatur in den Straßen" senken, um eine tiefere Delle im Wachstum zu verhindern. Die Wahlen 2014 spielen dabei mit Sicherheit eine Rolle. Zuvor aber hatte Rousseff die Lizenzvergabe für einige Straßen- und Eisenbahnprojekte im Visier, die im Herbst anstehen und für die die Regierung auf ausländische Investoren hofft.

Im Land der Zukunft ist eine überaus spannende Gegenwart angebrochen. Die jüngsten Proteste wiederum haben gezeigt, dass sich in Brasilien noch ein ganz anderes Kapital entwickeln könnte: eine kritische und sich einmischende Zivilgesellschaft mit dem unbedingten Willen zur demokratischen Partizipation.

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