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Entwurf - noch nicht reif

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Es ist die Absicht des Bundesministers für soziale Verwaltung, den bereits fertiggestellten Entwurf des neuen „Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes“ (ASVG) womöglich noch in der Frühjahrssession des Nationalrates der parlamentarischen Behandlung zuzuführen und ihn mit 1. Juli d. J. in Kraft treten zu lassen, obwohl bereits da und dort Stimmen laut werden, die als technisch frühesten Termin hierfür den 1. Jänner 1956 nennen, ja sogar von einer notwendigen Umarbeitung des Entwurfes sprechen.

Rein äußerlich betrachtet erfüllt der Entwurf wohl kaum die in ihn gesetzte Erwartung, unsere Sozialversicherung aus dem Paragraphendickicht der durch Ueberleitungs-, Anpassungsund Neuregelungsgesetze immer wieder abgeänderten, ergänzten und schließlich völlig unübersichtlich gewordenen Reichsversicherungs-. Ordnung herauszuführen. Seine rund 500 Paragraphen sind teils überlang, teils nur schwer verständlich und dem Nichtfachmann vielfach überhaupt unzugänglich. Man hält es für einen Fehler, daß entgegen den sonstigen Gepflogenheiten der Text des Entwurfes nicht von der legislativen Abteilung des Ministeriums für soziale Verwaltung, sondern vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger abgefaßt wurde, der seinerseits wieder im Leistungsteil ein bereits von einer dritten Seite fertig vorgelegtes Schema kritiklos übernahm. Das Ministerium hat dann schließlich den so zustandegekommenen Entwurf lediglich autorisiert, ohne wesentliche Aenderungen vorzunehmen.

Am schärfsten wird der ASVG-Entwurf von den Aerztekammern bekämpft, die die gesetzliche Neuregelung ihrer Beziehungen zur Sozialversicherung mit größtem Nachdruck angemeldet haben. Ihre Forderungen stimmen mit den diesbezüglichen zwölf Programmpunkten der Weltärzteorganisation vollkommen überein; sie verlangen: Freie Aerzte- und Spitalswahl durch den Patienten, keine Beschränkung des Arztes in der Medikation, entsprechende Vertretung des Aerztestandes in allen Einrichtungen der gesetzlichen Krankenversicherung, Valorisierung der Entlohnungstarife und nicht zuletzt Einführung einer Einkommensgrenze für die Einbeziehung in die Krankenversicherungs-pflicht.

Und die Aerzteschaft hat auch bereits einen Erfolg erzielt. Das Bundesministerium für soziale Verwaltung hat sich vor kurzem bereit erklärt, die Bestimmungen über die Beziehungen zwischen der Aerzteschaft und den Sozialversicherungsinstituten als eigenen Teil in das neue ASVG einzubauen. Minister Maisei soll sich darüber hinaus für eine möglichst weitgehende Erfüllung der Wünsche der Aerzteschaft ausgesprochen haben. Allerdings wird deren Forderung, daß jeder Arzt im Rahmen dsr Krankenversicherung tätig sein dürfe, al zu weitgehend bezeichnet, zumal ja von den 4779 praktischen Aerzten Oesterreichs schon ohnehin 3 819 und von den 2186 Fachärzten 1697 als Vertragsärzte in der Sozialversicherung tätig sind. Man hält den Aerzten aber auch entgegen, daß ihre Behauptung, die obligatorische Krankenversicherung vernichte die materielle Existenzgrundlage der Aerzteschaft, unrichtig sei. Im Gegenteil. Von den 2,2 Milliarden Schilling Jahreseinnahmen der Krankenversicherung im Jahre 1953 seien rund 448 Millionen Schilling für die Kosten der ärztlichen Behandlung verausgabt worden: das bedeute aber, daß pro Arzt ein Jahresbetrag von etwa 73.000 S brutto ausbezahlt wurde. Bei Zahnbehandlern verringere sich dieser Betrag auf 46.000 S brutto.

Sehr großen Widerspruch haben auch die Bestimmungen des Entwurfes über das völlige oder teilweise Ruhen von Leistungen bei Personen, die noch über das 65. Lebensjähr (Anfallsjahr der Altersrente bei männlichen Versicherten) hinaus tätig sind und solchen, die als Staatspensionisten in eine Privatstellung eingetreten sind und einen Rentenanspruch erworben haben, ausgelöst. Hierüber hat die „Furche“ bereits in ihrer Nr. 12 unter dem Titel „Ist das nicht Enteignung?“ ausführlich berichtet. Dieses Problems hat sich nunmehr der „Verband der geistig Schaffenden“ angenommen. Sollte es gleichwohl bei der Kodifizierung der angefochtenen Bestimmungen, die überdies noch rückwirkende Geltung haben, verbleiben, dann würde aller Wahrscheinlichkeit nach der dann zweifellos von allen Seiten angerufene Verfassungsgerichtshof diese Gesetzesbestimmung ( 91 b ASVG) wieder aufheben.

Der gleiche Vorwurf der Verfassungswidrigkeit wird von den Angestelltenversicherungsrenten beziehenden Staatspensionisten aber auch dem Rentenbemessungsgesetz ( 6 Abs. 2 b) gemacht, das ihnen von ihrer Rente monatlich 239 S und ihren Hinterbliebenen 147 S abzieht.

In die Kampffront gegen den ASVG-Entwurf haben sich auch die Apotheker eingegliedert, die das im Entwurf den Gebietskrankenkassen zuerkannte Recht, eigene Apotheken zu erwerben, zu errichten und zu betreiben ( 24 Abs. 5 ASVG), bestreiten. Diese Kampfansage ist um so aktueller, als der Verwaltungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 17. Februar 1955, ZI. 1360/54 die Beschwerde der Klagen-furter Apotheker, betreffend die Bewilligung und den Betrieb einer Apotheke der Kärntner Gebietskrankenkasse, zurückgewiesen hat, was von der Apothekerkammer als ein Einbruch in das ureigenste Gebiet der Pharmazie und damit in die Privatwirtschaft bezeichnet wurde. Der Hauptverband österreichischer Versicherungsträger steht demgegenüber auf dem Standpunkt, daß das obangeführte Recht den Krankenkassen bereits im ersten österreichischen Krankenversicherungsgesetz vom 30. März 188 8, RGBl. Nr. 3 3, zuerkannt wurde. Bisher betreibt aber lediglich die Wiener Gebietskrankenkasse eine Anstaltsapotheke, nachdem sie im Jahre 1948 die Realkonzession der ehemaligen „Alten Feldapotheke“ in Wien käuflich erworben hat.

Im Rahmen des ASVG-Entwurfes spielt sich aber auch eine Auseinandersetzung zwischen dem Sozial- und Justizministerium über die künftige Gestaltung des Verfahrens in Leistungsstreitigkeiten ab, bei der man sich aber bedingungslos auf die Seite des Sozialministeriums stellen muß. Das Justizministerium will nämlich — warum, ist nicht bekannt — an Stelle der seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bestehenden und bestens bewährten Schiedsgerichte für Sozialversicherung und eines noch zu schaffenden Oberschieds- oder Versicherungsgerichtes in Wien Schiedskommissionen, also Verwaltungsbehörden, setzen, ein Plan, der vom Ministerium für soziale Verwaltung und ebenso auch von den Gewerkschaften mit der Begründung abgelehnt wird, daß es sich hier um einen offenkundigen sozialen Rückschritt handle, der um so unfaßbarer erscheint, als gerade vor kurzem in der benachbarten westdeutschen Bundesrepublik das Sozialgerichtsgesetz in Kraft trat, das an Stelle der Judikatur durch Versicherungs- und Oberversicherungsämter die Rechtsprechung durch Sozialgerichte, Landessozialgerichte und das Bundessozialgericht gesetzt hat. Daß wir in Oesterreich seit dem Juli des Vorjahres nicht mehr die Möglichkeit haben, die Urteile der Schiedsgerichte für Sozialversicherung zu überprüfen, und daß dieser unerfreuliche Zustand nun bald ein Jahr dauert, sei hier nur am Rande vermerkt.

Unsere Fachleute, soweit sie nicht beamtet sind, aber auch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände bemängeln es schließlich, daß der Entwurf es unterlassen habe, mit voller Klarheit auszusprechen, daß die grundlegende Voraussetzung für das Bestehen der österreichischen Sozialversicherungspflicht das Vorhandensein eines Dienst-, Arbeits- oder Lehrverhältnisses sei; dies wäre schon deshalb notwendig gewesen, um den gegenwärtigen Zustand der Rechtsunsicherheit, der durch die anderslautende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die dauernd von einem angeblich auf dem Boden der Sozialversicherung entstandenen Beschäftigungsverhältnis spricht, womit man dann praktisch jede arbeitende und bezahlte Person in die Sozialversicherung einbeziehen kann, entstanden ist, ein Ende zu setzen.

Wir glauben, daß es unter den obwaltenden Umständen wohl am Platze wäre, den ASVG-Entwurf im Bundesministerium für soziale Verwaltung einer gründlichen Ueberarbeitung zu unterziehen, natürlich aber erst dann, wenn man mit allen Interessentengruppen, die Einsprüche angemeldet haben, ausführliche Rücksprache gepflogen hat.

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