Manfred Nowak: "Erreichen unwürdigen Grad an Zynismus“

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Manfred Nowak ist Professor für Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Wien. Er war auch Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zur Folter.

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Manfred Nowak ist Professor für Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Wien. Er war auch Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zur Folter.

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Die Furche: Frankreich und Italien fordern die temporäre Aussetzung des Schengenabkommens wegen des Flüchtlingsstroms aus Nordafrika. Halten Sie das für gerechtfertigt?

Manfred Nowak: Das ist wirklich absurd, weil das in die völlig falsche Richtung geht. Das Problem ist nicht Schengen, sondern der Umgang der EU mit den Flüchtlingen generell: Griechenland war beispielsweise im Jahr 2010 mit 90 Prozent aller inhaftierten Migranten in den EU-Raum konfrontiert. Dann haben noch andere Staaten Menschen nach Griechenland aufgrund der Dublin-II-Verordnung zurückgeschoben, als dort alles schon zusammengebrochen war. Dass die Griechen natürlich sagen: Das ist nicht, was wir uns unter Solidarität vorstellen, ist klar. Jetzt ist die Reihe an Italien - wobei man schon dazu sagen muss: 28.000 Schutzsuchende sind keine unbewältigbare Zahl für das Land. Deshalb Schengen außer Kraft zu setzen, ist mehr als fragwürdig.

Die Furche: Was wäre die Lösung?

Nowak: Zunächst ist zu sagen, dass die EU wirklich in einer Krise steckt. Nationalinteressen werden massiv in den Vordergrund gestellt. Die große Idee der Europäischen Integration war aber gerade jene einer Solidargemeinschaft: Dass die reichen Ländern den ärmeren beistehen im Sinne einer Stabilität des Ganzen. Genauso wie in der Euro-Zone sollte es auch in der Flüchtlings- und Migrationspolitik laufen. Daher sind Grenzkontrollen der falsche Weg. Man gibt dadurch eine wichtige Errungenschaft der EU auf - eine Errungenschaft, die auch von den Menschen sehr geschätzt wird. Tatsächlich sollten wir die Dublin-II-Verordnung abschaffen.

Die Furche: Der gemäß Asylwerber in jenem Land einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie zum ersten Mal die Union betreten haben.

Nowak: Genau. Dieses System schafft unzumutbare Zustände in genau jenen Staaten, die den südlichen und östlichen Krisenregionen am nächsten liegen. Es ist absolut widersinnig, Menschen, die Verwandte in Deutschland oder Großbritannien haben und bereits Englisch oder Deutsch sprechen, nach Griechenland zu zwingen. Ich habe fürchterliche Schicksale dort gesehen. Das ist nicht fair gegenüber den Staaten, aber auch nicht fair gegenüber den Flüchtlingen. Uns fehlt insgesamt eine gesamteuropäische Asyl- und Einwanderungspolitik mit einer fairen und bedarfsgerechten Verteilung. Wir brauchen ja auch Zuwanderung.

Die Furche: Im aktuellen Fall gäbe es eine Richtlinie des Rates für den Fall eines Massenansturms. Warum beruft sich keiner der Staaten darauf?

Nowak: Natürlich gibt es diese Möglichkeiten im EU-Recht. Es ist schon auch ein Versagen der italienischen Politik und ein Ablenken von den Problemen, die Berlusconi an allen Fronten hat. Trotzdem: À la longue kann es nicht sein, dass immer wieder jene Staaten, die an der Schengen-Außengrenze liegen, die Hauptverantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen zu tragen haben. Wir haben in Europa einen Grad an Zynismus im Umgang mit Menschen, die zu uns kommen wollen, erreicht, der für einen reichen Kontinent unwürdig ist.

Die Furche: Was soll man konkret mit Flüchtlingen aus Tunesien machen?

Nowak: Im Moment herrscht dort eine chaotische Situation. Deshalb würde ich Menschen, die von dort kommen, einen vorübergehenden Aufenthaltsstatus zuerkennen und gleichzeitig großzügig den Aufbau demokratischer Strukturen unterstützen. Dann werden viele dieser Menschen auch gerne wieder zurückkehren. Wir sollten nicht so tun, als sei der Übergang von einer rigiden Diktatur zu einer Demokratie von einem auf den anderen Tag zu schaffen.

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