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Zum 70. Mal jährt sich am 25. Juli der NS-Putsch, dem Engelbert Dollfuß zum Opfer fiel. franz schausberger beschreibt den Politiker als Gefangenen seiner Zeit, als Opfer und Täter.

Als am 25. Juli 1934 der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nach drei Stunden ohne ärztliche Hilfe und ohne geistlichen Beistand nach einem brutalen Attentat hilflos verblutet war, endete damit das Leben eines Politikers, der nicht nur während seiner Amtszeit wild umstritten war sondern bis zur Gegenwart die politische Landschaft heftig polarisiert.

Es sind einfach zu viele Fragen offen und ungeklärt, um ein rundes Urteil über diesen charismatischen, leidenschaftlichen, religiös-sendungsbewussten, pflichterfüllten Politiker und "kleinen Musterknaben" (Gordon Shepherd), der als privater Mensch freundlich, sanft, charmant, liebenswürdig, tolerant, besonders sozial beschrieben wird, fällen zu können. Zu sehr steht die Geschichtsschreibung dabei noch immer unter dem Einfluss der Haltungen der politischen Parteien.

Beängstigende NS-Gewinne

1932, nach den beängstigenden Gewinnen der Nationalsozialisten bei den Landtagswahlen in den drei Bundesländern Wien, Niederösterreich und Salzburg, versuchte Dollfuß mit allen Mitteln Neuwahlen für den Nationalrat zu verhindern, die von den Sozialdemokraten, den Großdeutschen und den Heimwehren vehement gefordert wurden. Dollfuß wusste, solche Neuwahlen würden starke Gewinne der Nationalsozialisten und starke Verluste seiner Partei bringen. Seine Versuche, die Sozialdemokraten von einem Neuwahlantrag abzuhalten, blieben erfolglos. Wer die Klub- und Parteivorstandsprotokolle der Sozialdemokraten aus dieser Zeit liest, erkennt die kleinkarierte Parteitaktik und den Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Die sozialdemokratische Parteiführung wollte oder konnte den Ernst der Situation nicht erkennen und verpasste die wohl letzte Chance für die Demokratie.

Dollfuß blieb daher - zumindest aus seiner Sicht - gar nichts anderes übrig, als sich Koalitionspartner zu suchen, die ihm aus dem Dilemma der drohenden Neuwahlen halfen. Er fand sie nur mehr im Landbund und im antidemokratischen, z. T. faschistischen Heimatblock, der in die Regierung drängte, um diese auf einen Rechtskurs zu bringen. Der Preis, den die Christlichsoziale Partei an den unsicheren Partner Heimatschutz zahlte, war unverhältnismäßig hoch. Aber: es war eine durch demokratische Wahlen zustande gekommene Regierung, die eine Mehrheit im Nationalrat hinter sich hatte.

An seiner durchaus anerkannten, ambitionierten und modernen Politik als Landwirtschaftsminister und am Beispiel der Bildung der Regierung Dollfuß I lässt sich erkennen, dass Dollfuß keinesfalls mit dem Programm eines autoritären Regimes an seine Aufgabe herantrat. Die in einem Nebensatz der Regierungserklärung erwähnte Absicht, in die Verfassung ständische Elemente einzubauen, war ein Zugeständnis an die Heimwehren. Das scheint überhaupt ein charakteristischer Wesenszug von Dollfuß - auch für seine weitere Entwicklung - gewesen zu sein: ein wendiger Politiker, dessen System aus einer Reihe von Ausweichmaßnahmen bestand, die ihn durch schwierige Situationen bringen sollten. Es war so, dass Dollfuß - wie der mehrmalige Handelsminister Eduard Heinl es beschrieb - "die Lösung einer Komplikation nach der anderen aus ihren Voraussetzungen suchte".

Dollfuß gehörte der sogenannten Frontgeneration an und war von den harten Erlebnissen des Weltkrieges geprägt. Daraus ergab sich ein eigener Lebensstil. Die militärische Notwendigkeit erforderte unmittelbar im Augenblick Entscheidungen ohne lange Überlegungen, um überhaupt zu überleben. Deshalb wohl auch die für seine Umgebung oft überraschenden Entscheidungen, Handlungen, die Schritt für Schritt, von der jeweiligen momentanen Situation geprägt, gesetzt wurden. "Sich der jeweiligen Situation anpassen" mit daraus folgenden Positionsänderungen scheint ein durchaus menschlicher Wesenszug der politischen Handlungsweise von Engelbert Dollfuß gewesen zu sein. Damit setzte Dollfuß die Seipel'sche Tradition der "Akkommodation" fort. Auch dieser hatte den Weg vom Monarchisten über den republikanischen Demokraten zum Vertreter ständestaatlicher Ideen bis zum Förderer der Heimwehren gefunden.

War Dollfuß von seiner bäuerlichen Herkunft als durchaus demokratisch denkender Mann des Kompromisses geprägt, machte ihn seine Kriegsteilnahme zum Mitglied der Frontgeneration: anfällig für autoritäre Muster, kompromisslos, antimarxistisch, für klare Entscheidungen, unduldsam, sich sehnend nach starker Führung, unzufrieden mit den bestehenden Zuständen, Wille zum Gehorsam, Vorliebe für Uniformierung und Disziplin, Ständestaat als Alternative zur parlamentarischen Demokratie.

Gerade die Ereignisse und die Erfahrungen um die Regierungsbildung im Mai 1932 dürften Schlüsselerlebnisse für Dollfuß' weitere politische Handlungsweise dargestellt haben. Die angesichts der nationalsozialistischen Gefahr unverständliche sture und abweisende Haltung der Sozialdemokratie verstärkte seine Prägung aus der Frontgeneration. Man muss bedenken, dass Dollfuß damals nicht einmal 40 Jahre alt war - eine politische Abgeklärtheit konnte man von ihm nicht erwarten.

Der Frontkämpfer in Dollfuß

Ins autoritäre Regieren kann man "hineinstolpern". Noch dazu, wenn in vielen europäischen Ländern bereits die Demokratie beseitigt war, wenn die Bevölkerung weitgehend den Glauben an die parlamentarische Demokratie entweder gar nicht besaß oder verloren hatte, wenn die Sozialdemokraten von der "Diktatur des Proletariats" schwärmten und die Nazis ihren völkischen Führerstaat propagierten.

Anders ist es mit der Vollstreckung der Todesurteile gegen die linken Aufständischen des Februar-Putsches. Hier hat Dollfuß persönliche Schuld auf sich geladen. Gerade als tief religiöser, überzeugter christlicher Politiker hätte Dollfuß den Weg der Begnadigung gehen müssen. Aber immerhin hatte Dollfuß bereits das Attentat auf ihn vom 3. Oktober 1933 - wenn auch von einem Nationalsozialisten - hinter sich. Was geht in einem Menschen vor, wenn nun eine blutige Revolte gegen ihn ausbricht - in einer Zeit, in der es gilt, alle Kräfte gegen den anstürmenden Nationalsozialismus zu mobilisieren? Dollfuß-Biograph Gordon Shepherd spricht von "bösen Zugaben der aufgewühlten Leidenschaften", die unentschuldbar sind. Trotz der kolportierten inneren Bedrängung, Zweifel und Seelenqual war in Dollfuß offenbar wieder der Frontkämpfer der Stärkere gewesen.

Viele Fragen ungeklärt

Zum Juli-Putsch und zur Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß sind überraschend viele Fragen ungeklärt. Hier hat die Zeitgeschichte noch vieles aufzuarbeiten. Der Putsch nationalsozialistischer Desperados war weitgehend improvisiert und von "österreichischen Halbheiten" in jeder Weise geprägt, die Reaktionen des "Systems" auf die ersten Informationen von einem Putsch waren dilettantisch, wie sie dilettantischer nicht hätten sein können. Man war abgestumpft gegenüber den dauernden Putsch-Ankündigungen, nahm sie nicht ernst, Eitelkeiten und persönliche Rivalitäten kamen zum Tragen, Verrat, Feigheit und Überläufertum, Unfähigkeit und Borniertheit ließen alles so kommen, wie es kam. Welche Rolle spielte Hitler-Deutschland, wer hat den zweiten Schuss abgegeben, warum versagte "das beste Polizeisystem von Europa", welche Rolle spielte Emil Fey wirklich? Die letzte Frage wird leider auch durch ein neues Buch über diesen undurchsichtigen Politi-ker von Georg Mautner-Markhof nicht im Geringsten erhellt.

Eines aber steht fest: Dollfuß war in seinem österreich-patriotischen Sendungsbewusstsein und in seinem geradezu rührend naiven Versuch, das Reich Gottes auf Erden zu errichten, zum Erzfeind der Nationalsozialisten geworden. Deshalb musste er sterben. Denn er hätte - davon kann man ausgehen - einem Einmarsch der Nationalsozialisten militärischen Widerstand entgegengesetzt. Dollfuß war unbestritten das erste politische Opfer im Kampf gegen Hitler. Charles A. Gulick, wahrlich kein Freund von Dollfuß, spricht von einem der übelsten politischen Morde, den es in der Geschichte gegeben hat.

Es wird höchste Zeit für eine "Entdämonisierung" von Engelbert Dollfuß. Das Gedenken an die Ermordung dieses wohl umstrittensten österreichischen Bundeskanzlers vor 70 Jahren sollte den Anstoß für eine fundierte Doll-fuß-Biographie nach den neues-ten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen der Biographie-Schreibung sein.

Der Autor ist Universitätsdozent für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg und war von 1996 bis 2004 Landeshauptmann von Salzburg.

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