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Es geht um die Grundrechte

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Vor nunmehr zwei Jahren hat Bundeskanzler Klaus die Grundrechtskommission zum ersten Male einberufen. Etwa 20 Persönlichkeiten wurden vom Kanzler in dieses Gremium geholt: Beamte, Professoren, Richter und Parlamentarier (für die ÖVP die Abgeordneten Hauser und Kummer, für die SPÖ die Abgeordneten Mark und Winter, für die FPÖ der Abgeordnete van Tongel). Die Grundrechtskommission, die seit ihrer Gründung regelmäßig einmal im Monat Zusammentritt, soll der Regierung und diem Parlament ausreichende und bereits außer Streit gestellte Unterlagen für eine Neuformulierung des Grundrechtskata- loges ausarbeiten.

Die Ursache für die Aktivität auf einem Gebiet, das zwar zu den wesentlichsten Voraussetzungen einer Demokratie zählt, aber im Bewußtsein der meisten Österreicher in nur sehr undeutlicher Form eine Rolle spielt, war vor allem die Unzufriedenheit der Politiker und Juristen mit der Vielfalt, der Unübersichtlichkeit und der Widersprüchlichkeit, die auf dem Sektor der Grund- und Freiheitsrechte in Österreich herrscht. Dieser unbefriedigende Zustand war auch schon Gegenstand größerer Beratungen auf mehreren österreichischen Katholikentagen, auf denen die Forderung nach einem neuen Grundrechtskatalog erhoben wurde. Auch auf dem österreichischen Juristentag wurde diese Situation der österreichischen Grundrechte allgemein beklagt.

Mehrgeleisigkeit

Die österreichischen Grundrechte

— zunächst sollen darunter nur die Freiheitsrechte verstanden werden, also die Normen der Bundesverfassung, die dem Staat ein Unterlassen vorschreiben und damit dem Indivi duum einen staatsfreien persönlichen Lebensbereich garantieren — gehen auf verschiedene Rechtsquellen zurück. Das Staatsgrundgesetz des Jahres 1867, das durch den Artikel 149 B.-VG. von unserer geltenden Verfassung übernommen wurde, ist innerstaatliches Recht und seinem Wesen nach ein klassisch zu nennender Grundrechtskatalog der liberalen Ära. Die weiteren wichtigen Quellen der Grundrechte sind der Staatsvertrag von St. Germain, der Staatsvertrag von Wien (Art. 6) und die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK), die durch das BGBl. Nr. 210/1958 als Gesetz mit Verfassungsrang in die österreichische Rechtsordnung aufgenommen wurde — also Rechtsvorschriften völkerrechtlichen Ursprungs.

Dadurch ist bereits die erste Aufgabe, die ein neuer Grundrechts-

katalog zu erfüllen hat, gestellt: Die bestehenden Rechtsvorschriften müssen vereinheitlicht und zusammengefaßt werden. (So schützt Art. 14 StGG. das gleiche Rechtsgut wie Art. 63 des Staatsvertrages von St. Germain, wie Art. 6 des Staatsvertrages von Wien und wie Art. 9 MRK, nämlich die Glaubens- und Gewissensfreiheit; das ist nur ein Beispiel für die weitgehende Parallelität der einzelnen Grundrechtsquellen.) Eine weitere Aufgabe ist es, die Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes, durch die weite Gebiete der Grundrechte einen Ausbau und eine Spezifizierung erfahren haben, zu kodifizieren, also die wichtigsten Ergebnisse der Judikatur zum Gesetz zu machen. Das ist ein Teil der Arbeit, vor die sich die Grundrechtskommission gestellt sieht.

ring stattfand. In den Referaten — es sprachen Hofrat Friedrich Lehne vom Verwaltungsgerichtshof (er ist Mitglied der Grundrechtskommission) über „Die Grundrechtssituation in Österreich“, Prof. Wilhelm Geiger vom deutschen Bundesverfassungsgericht über „Die Anwendung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deuschland“ und Univ.-Doz. Theodor Tofnandl über „Die sozialen Grundrechte“ — und in den lebhaften Diskussionen wurden das Was und das Wie untersucht: welche Grundrechte in den neuen Katalog aufgenommen werden sollten und in welcher juristischen Form dies am besten durchzuführen sei.

Soziale Realitäten

Die Grundrechtskommission wird keinesfalls an der Tatsache vorbeisehen können, daß sich die gesellschaftliche Wirklichkeit seit 1867, seit dem Jahr des Staatsgrundgesetzes, entscheidend geändert hat. Stand in der Ära des Liberalismus, in der Zeit, in der es den Konstitutionalis- mus zu erkämpfen und zu erhalten galt, das Bestreben im Vordergrund, den Staat und seine spätabsolutistischen Relikte zurückzudrängen und dem Bürger einen möglichst großen Freiheitsraum zu sichern, so hat sich im folgenden Jahrhundert die Perspektive verschoben. Vor 100 Jahren wurde das politische und juristische Denken vom Typ der Besitzgesellschaft bestimmt. Doch die Besdtz- gesellschaft gehört der Vergangenheit an; sie hat der Einkommensgesellschaft Platz machen müssen. Damit aber steht im Zusammenhang,

daß der mit juristischer Akribie ausgesparte, auf eine Besitzgesellschaft zugeschnittene Freiheitsraum heute von den einzelnen de facto nicht mehr ausgenützt wird. Der Mensch lebt heute in einer Welt voll von faktischen Anhängigkeiten; er ist in seiner Rolle als Konsument weitgehend manipulierbar; er liefert sich selbst dem Konformismus aus (oder wird ausgeliefert). Was nützen da neue Freiheitsrechte, wenn schon jetzt ein auffälliger Kontrast zwischen dem Ausmaß an rechtlich garantierter Freiheit und der tatsächlich existierenden Freiheit besteht, wenn neue Freiheitsrechte nur von einer kleinen Minderheit tatsächlich genützt werden können?

Diese gesellschaftlichen Fakten fordern eine wirksame Ergänzung der liberalen Grundrechte durch soziale. Freiheit erstarrt zur Leerformel, wenn nicht ein Minimum von Gleichheit (und dieser sollen soziale Grundrechte dienen) garantiert 1st, damit alle die ihnen eingeräumte Freiheit auch nützen können. Liberale und soziale Grundrechte stehen zueinander nicht nur in einem Span- nungs-, sondern auch in ednem Ergänzungsverhältnis. Das sollte die Ausgangsposition aller weiteren Entscheidungen sein. In welcher Form soziale Grundrechte in die Rechtsordnung einzubauen wären, ist demgegenüber nur eine sekundäre Frage. Die juristischen Bedenken, die auch in Maria Schutz gegen eine verfassungsmäßige Positivierung sozialer Grundrechte in Form von Programmsätzen vorgetragen wurden (es wurde ein Verstoß gegen die

Postulate der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit befürchtet), wiegen zweifellos schwer. Aber primär geht es um die wirksame und realitätsnahe Ergänzung der Freiheitsrechte. Eine juristisch brauchbare Form dies Einbaues neuer Grundrechte in die Rechtsordnung, sei es durch eine verfassungsmäßige Verankerung oder nicht, wird sich finden lassen — und sie muß auch gefunden werden, denn die 1961 von Österreich Unterzeichnete Europäische Sozialcharta wartet noch immer auf die Ratifizierung durch das Parlament.

Eine politische Frage

Die Entscheidung, welche die Grundrechtskommission und, im Anschluß daran, der Gesetzgeber werden treffen müssen, ist vor allem eine politische. Auseinandersetzungen zwischen rechtspositivistisch und naturrechtlich orientierten Kräften wären hier nuir Scheingefechte. Entscheidend ist, daß die österreichischen Grundrechte den der österreichischen Bevölkerung gemeinsamen Wertvorstellungen entsprechen müssen. Die Neuformulierung eines Grundrechtskataloges ist somit die Neufassung einer Wertordnung. Und diese Wertordnung kann nicht in einem sozial luftleeren Raum schweben; sie kann nicht die Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts mißachten. Das Laissez-faire-Denken ist schon vor langer Zeit begraben worden. Man wird gut daran tun, nicht so zu tun, als wäre es noch lebendig. Dann wird die Arbeit der Grundrechtskommission von zukunftsweisender Bedeutung sein.

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