Es geht um mehr als nur um das Geld

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Die Denkwerkstatt St. Lambrecht diskutierte die Zukunft der Altersvorsorge aus Expertensicht – Kosten für Pflege steigen bis 2030 dramatisch an – Gemeinden fehlen Mittel – Hohe Hürden auf dem Weg zu einem Markt für Pflegeversicherungen – In der Praxis fehlt es in den Heimen an Personal – Offene ethische Fragen bei zwangsweiser Ernährung.

Ein drastisches Statement platzierte Helmut Mödlhammer, Präsident des Österreichischen Gemeindebundes, vor der Denkwerkstatt St. Lambrecht 2010: „Wir haben keinen Pflegenotstand, wir haben einen Finanzierungsnotstand.“ Dieser sei erheblich und werde sich weiter verschärfen. Bereits in wenigen Wochen werden die Landes- und die Gemeindefinanzreferenten dazu eine gesonderte Tagung abhalten, kündigte Mödlhammer vorige Woche im Benediktinerstift St. Lambrecht vor mehr als 60 Fachleuten aus Sozialwesen, Finanzierung und Versicherung an. Dafür gibt es ein Reihe guter Gründe.

Österreichs Gemeinden betreiben zwei Drittel der 800 Alten- und Pflegeheime, tragen die Hälfte der Kosten für die 70.000 Heimplätze. Von den Heimbewohnern benötigten zwei Drittel Sozialhilfe, da deren Pensionen zu niedrig seien. Für diesen Zweck verwenden die Gemeinden bereits ein Zehntel ihrer Ausgaben, mehr als sie für Straßen oder Wasser aufbringen. Und die Aufwendungen steigen weiter an, wie Mödlhammer unter Hinweis auf Expertisen warnte.

Kostenanstieg in allen Szenarien

Auf Basis einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes (Wifo) über „mittel- und langfristige Finanzierung der Pflegevorsorge“ präsentierte dessen Experte Thomas Url in St. Lambrecht die möglichen Szenarien einer Entwicklung des Pflegeaufwandes. Fazit: Betrugen die Kosten für das Bundes- und das Landespflegegeld sowie für die Sachleistungen der Länder vor drei Jahren noch 3,3 Milliarden Euro, so erhöht sich dieser Betrag bis 2030 auf mindestens 5,3 Milliarden, bei besonders schwerwiegenden Entwicklungen sogar bis auf 8,4 Milliarden Euro.

Einer der Gründe für die Steigerungen, auf die Mödlhammer „schon vor zehn Jahren“ hingewiesen haben will, liege in der demografischen Entwicklung, konkret in der steigenden Lebenserwartung. Ein weiterer in dem Umstand, dass die früher in Spitälern gepflegten Personen heute in den Seniorenheimen gepflegt werden, was Carmen Rist, Bereichsleiterin der Senioren- und Pflegehäuser der Caritas der Erzdiözese Wien, detailliert betätigte.

Die häufigsten Gründe für die Aufnahme in ein Pflegeheim seien Demenz, Brüche, Infarkte oder Schlaganfälle. Insbesondere der jetzt bereits hohe Anteil an Dementen steige weiter an, berichtete Rist. Zugleich nehme die äußerst bedeutsame Pflege in der Familie ab. Die Kinder lebten häufig im Ausland, familiäre Strukturen würden damit wegbrechen. Tatsächlich stieg in der Dekade von 1996 bis 2006 die Anzahl der Pflegegeldbezieher und die Höhe der Kosten um je 20 Prozent an. Dem Sozialbericht 2008 zufolge erhielten in diesem Jahr nahezu 350.000 Personen Pflegegeld des Bundes, weitere 60.000 ein Pflegegeld ihres jeweiligen Bundeslandes.

Vor dem Hintergrund steigender Finanzierungserfordernisse plädierten die Teilnehmer an der Denkwerkstatt St. Lambrecht einmal mehr für das 3-Säulen-Modell, also für ein gemischtes System aus umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Altersvorsorge. Es scheint naheliegend zu sein, die bestehenden Angebote von Versicherungen anzunehmen – doch allein, sie scheinen auf den Märkten zumindest gegenwärtig nur auf geringe Akzeptanz zu stoßen.

Hartes Terrain für Versicherungen

Es sei offenbar schwierig, auf dem Gebiet der Pflege einen funktionierenden Versicherungsmarkt aufzubauen, resümierte Wifo-Experte Thomas Url seine Analysen. Die Ursachen? Der Mensch neige dazu, vor unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen. Das gelte für mögliche künftige Pflegebedürftigkeit bei gleichzeitig unmittelbar eintretenden Kosten – und dies alles bei ungewissem Ausgang. Zudem bestünde in entwickelten Sozialstaaten das Samariter-Phänomen: Der Einzelne könne sicher sein, von der Gesellschaft nicht alleingelassen, ganz im Gegenteil, sogar aufgefangen zu werden. Andererseits würden Versicherungen teuer werden, weil – dem Prinzip des moralischen Risikos folgend – einzelne Versicherte teurere Leistungen nachfragen, eben weil sie versichert seien. Zugleich würden – als negative Selektion – viele ihre Versicherungen wieder auflösen, weil sie den Leistungsfall für unwahrscheinlich erachten. So sei es erklärbar, dass in Österreich der Anteil der Pflegeversicherten null betrage, in den USA nur bei zehn, in Frankreich nur bei 20 Prozent liege. Das US-Modell Medicare habe zudem den Konstruktionsfehler, ähnlich hiesiger Katastrophenversicherungen, die Versicherungsleistung zurückdrängen und zwar in jenem Ausmaß, in dem seitens staatlicher Programme finanzielle Hilfe oder Ersatz geleistet werde.

Einen möglichen Ausweg skizzierte Mödlhammer: Senioren wollen zu Hause bleiben, also sei das betreute Wohnen auszubauen, die Wohnbauförderung entsprechend zu ändern. Für die Eigenvorsorge und Versicherungen sollten entsprechende Anreize geschaffen werden. Am einfachsten und am wirksamsten sei allerdings eine geradezu flächendeckende Regelung. Mödlhammer: „Mit einem Zuschlag von 0,7 Prozent bei der Sozialversicherung können wir alles abdecken.“

Weitreichende Entscheidungen

Selbst wenn die Finanzierungen gelöst sind, bleibt eine Reihe teils schwerwiegender Fragen unbeantwortet, wie Carmen Rist andeutete. Einige davon schilderte die Fachhochschul-Betriebswirtin aus der Praxis:

Nahezu alle von ihr überblickten Heiminsassen seien Sozialhilfeempfänger, genau das wollten diese aber nicht sein. Die Pflegeheime gälten zudem als eine Art Asylheim, doch genau dort wolle niemand hin. Weiters fänden sich zu wenig Arbeitskräfte für die Pflege. Immerhin seien in den von ihr betreuten Heimen Mitarbeiter aus 38 unterschiedlichen Ländern beschäftigt, doch auch das reiche nicht aus: „Wir brauchen freiwillige Helfer.“ Schließlich bestünden, so Carmen Rist, noch „einige ethische Fragen“: Wie hält man es mit zwangsweiser Ernährung? Mit der Einführung von Magensonden? Oder dürfe es jemand einfach verweigern, zu essen und zu trinken?

Diese Umstände sind es, die aus der Entscheidung über die weitere Pflegefinanzierung eine über Humanität und Ethik machen.

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