Es gibt ein Drittes!

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GASTKOMMENTAR. Wenn wir unsere Demokratie reformieren wollen, müssen wir vom aristotelischen Entweder-Oder wieder zurück zu den platonischen Aporien.

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GASTKOMMENTAR. Wenn wir unsere Demokratie reformieren wollen, müssen wir vom aristotelischen Entweder-Oder wieder zurück zu den platonischen Aporien.

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Am 23. Juni 2016 fand in Großbritannien das Referendum über Verbleib oder Austritt aus der Europäischen Union statt, der Volksentscheid über den „Brexit“. Wahlberechtigt waren 46,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus dem Vereinigten Königreich, Irland und dem Commonwealth, sofern sie in Großbritannien, Nordirland oder Gibraltar ansässig waren. Die Wahlbeteiligung betrug 72,2 Prozent; 17,4 Millionen stimmten für den Austritt, 16,1 Millionen für den Verbleib in der Europäischen Union. Der Unterschied beträgt 2,3 Prozent der Wahlberechtigten! Trotzdem heißt es stets aus „berufenem“ Munde, das Volk habe entschieden, und das müsse nun umgesetzt werden.

Eine solche Aussage entspricht dem abendländischen Entweder-Oder-Denken, stellt aber einen Schlag ins Gesicht der Demokratie dar! Aristoteles hat das Entweder-Oder-Denken durch seine Logik – insbesondere durch den Satz vom ausgeschlossenen Dritten – in unser Leben gebracht. Sein Lehrer Platon und dessen Lehrer Sokrates legten den Schwerpunkt ihres Denkens auf die unauflöslichen Widersprüche, die sogenannten Aporien in unserem Denken und Sein. Hierarchien sind nach Aristoteles die bes­ten Mittel, Aporien zu umgehen und eine widerspruchsfreie Welt vorzutäuschen.

Als im 4. Jahrhundert das Chris­tentum Staatsreligion wurde, verschwand vorübergehend Aristoteles aus unserem Denken, weil er der Idee der Trinität nicht entsprach. Das Entweder-Oder-Denken blieb aber charakteristisch für das Abendland. Erst als die Araber in Europa eindrangen, kehrte mit ihnen Aristoteles zurück und zementierte damit das Entweder-Oder-Denken. Die Staatsform war dementsprechend eine Hierarchie. Nicht zuletzt durch die Französische Revolution wurde sie überwunden – demokratische Regierungsformen konnten sich durchsetzen. Demokratie bedeutet aber eine Wiederentdeckung platonischer Denkformen, denn Demokratie will die Widersprüche, die es in einem Volk immer gibt, in der Regierungsform abbilden.

Mehrheit vs. Minderheit

Die Idee der Demokratie verlangt, dass im Parlament die Aporien durch verschiedene Parteien dargestellt werden; diese Parteien haben sich idealerweise in einem dialektischen Prozess mit der Gesetzesbildung auseinanderzusetzen, so dass die Gesetzgebung – so weit wie möglich – beide Seiten einer Aporie berücksichtigen kann. Weil dieser Prozess beliebig lange dauern kann, ist als Notnagel die Abstimmung vorgesehen, die der Mehrheit das Recht in die Hand zu geben scheint. Das muss aber ein Notnagel bleiben, denn logisch gesehen ist bloßes Mehrheitsrecht zugleich Minderheiten-Unterdrückung!

Leider ist diese Basis der Demokratie weitgehend aus dem Gesichtsfeld der Öffentlichkeit entschwunden. Die meisten Menschen werden auf die Frage, wer die Gesetze macht, auf die Regierung verweisen, was der Idee der Demokratie widerspricht. Gesetzgeber ist und bleibt das Parlament, Regierungsvorlagen sollten häufiger als üblich vom Parlament verbessert werden (was freilich voraussetzen würde, Parlamentsabgeordnete nicht auf ein Ja-Sagen zur Parteivorgabe zu verpflichten).

Wollen wir unsere Überlegungen der Realität näherbringen, dann müsste unser Entweder-Oder-Denken überwunden werden, und knappe Ergebnisse von Volksabstimmungen könnten dann nicht den „Sieg“ einer Seite bedeuten! Mein – als vorläufig zur Diskussion gestellter – Vorschlag lautet: Nur wenn eine Seite des im Entweder-Oder formulierten Antrags eine Zweidrittel-Mehrheit erlangt, gilt die Abstimmung. Im anderen Fall liegt eine Aporie vor, und jede Seite muss eine Gruppe nominieren, die sich einem dialektischen Diskussionsprozess stellt, um eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung zu finden (wie es im Falle des Brexit etwa eine Zollunion sein könnte).
Weil dialektische Prozesse beliebig lange dauern können, muss freilich auch hier ein Zeitlimit vorgegeben werden. Bei dessen Überschreitung würde die gesamte Volksabstimmung hinfällig. Dies ist wohl noch besser als der Mehrheit Recht zu geben und damit die Minderheit zu negieren.

Ein etwas anderer Punkt zur Demokratie liegt mir noch am Herzen: Demokratie wird allzu oft einfach mit freien Wahlen verwechselt. Freie Wahlen dürfen aber nicht abgehalten werden, solange der demokratische Grundkonsens sich noch nicht durchgesetzt hat, dass der Wahlverlierer die Macht selbstverständlich abgibt! Wenn dieser Grundkonsens nicht gegeben oder noch nicht gefestigt ist, dann dürfen keine Wahlen abgehalten werden, denn sie führen zum Blutvergießen. Es schmerzt mich immer wieder, dieses Missverständnis samt vieler Opfer erleben zu müssen (vorwiegend in Entwicklungsländern).

Der Autor war Professor für Theoretische Physik an der Universität Wien.

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