EU-Verfassungsballon gefüllt. Hebt er ab?

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Am Freitag präsentiert Valéry Giscard d'Estaing Europas Staats- und Regierungschefs den Entwurf für die erste Verfassung der Union. 16 Monate Konventsarbeit haben nicht das Ergebnis eines Konzeptes, sondern das eines Kompromisses hervorgebracht. Der Streit im Konvent ist zu Ende, ein hoffentlich ebenso fruchtbringender in der Regierungskonferenz beginnt. von wolfgang machreich

Auf der grünen Wiese vor dem EU-Parlament in Brüssel müht sich ein Kompressor, einen riesigen Ballon mit Luft zu füllen. Drinnen im Parlament stehen die 105 Konventsmitglieder vor einer ähnlichen Aufgabe: "Wenn wir dem Ballon der Verfassung nicht noch etwas Luft einblasen, hebt er nicht ab", warnt Konventsmitglied Klaus Hänsch, "aber ein Atemstoß zuviel - und er platzt." Nicht zu weit gehen, das bereits Erreichte nicht gefährden, gleichzeitig aber auch auf keinen Fall vorschnell aufgeben, bis zum Schluss die Maximallösung anstreben - in dieser Zwickmühle steckt der deutsche EU-Abgeordnete Hänsch mit den anderen Konventionalisten am vergangenen Donnerstag. Der Konvent hat nur mehr wenige Stunden Arbeitszeit zur Verfügung. Dann muss die Europäische Verfassung fertig sein.

Der kreative Konvents-Geist

"Wir können nicht ewig weitermachen", hat am Tag zuvor Konventspräsident Valéry Giscard d'Estaing zur Eile gemahnt. Woraufhin die Konventsschar antwortet: "Rechnen Sie nicht damit, dass wir mit unseren Forderungen nach mehr Demokratie in der Union nachlassen." Giscard d'Estaing ist bis ins Finale der Konventsarbeit der Reibebaum, als der er sich schon in den vorangegangenen 16 Monaten unbeliebt gemacht hat, wofür man dem früheren französischen Präsidenten aber auch Achtung und Anerkennung entgegen bringt.

Die Europäische Union der 25 und mehr Staaten handlungsfähig machen, lautet der Auftrag, der Staats- und Regierungschefs an den Konvent für die Zukunft Europas. Der Europäischen Union eine Verfassung geben: Bei manchen fliegen da die Träume hoch - Giscard holt sie auf den Boden zurück. Für die anderen platzt die Union jetzt schon aus allen institutionellen Nähten, wird zuviel auf EU-Ebene und zuwenig national entschieden - Giscard ermuntert diese Fraktion, dem "kreativen Geist des Konvents" doch noch ein letztes Mal freien Lauf zu lassen.

Drei Minuten für die ganze EU

Wenn Giscard spricht, steht die Uhr. Bei den anderen läuft die Zeit mit. Und drei Minuten Redezeit sind nicht viel. Andrew Duff weiß das am besten. Duff stottert. Die Köpfe der rund um ihn herumsitzenden Konventsmitglieder wippen nach vorne und hinten, wenn sich der britische Liberale mit einem Wort besonders schwer tut. So als wollten die Kollegen dem Kollegen helfen. Doch der sieht das nicht. Die Augen geschlossen, presst der Cambridge-Professor ein Wort nach dem anderen aus sich heraus. Und Duffs gebrochene Stimme hat großes Gewicht im Konvent. 300 Änderungsanträge hat er gegen den ersten Verfassungsvorschlag von Giscard eingebracht. Im Unterschied zu den meisten Briten in diesem Gremium, ist für den europhilen Eierkopf nämlich immer noch zuviel national und zuwenig Union das vorherrschende Prinzip in der EU. Dieses Manko versucht er in den letzten Stunden auszubessern, denn "wir sollten nicht zu bescheiden sein in unseren Vorstellungen". Und: "Dieser Verfassungstext ist ja bereits sehr gut, aber wir wollen doch über das Erreichte hinausgehen. Wollen wir nicht?"

Auf der Wiese vor dem Parlament knattert noch immer der Kompressor und auf dem Gang vor dem Plenumssaal müht sich Hannes Farnleitner mit einem Kamerateam des ZDF. Der Vertreter des österreichischen Bundeskanzlers im Konvent hat sich zu einem begehrten Interview-Partner gemausert. Als "wortflinker Anführer des Zwergenaufstands" wird er in deutschen Medien tituliert. Die Position der kleinen Staaten soll er auch jetzt in die Kamera sagen.

"Kein neuer Suppenkaspar"

"Warum machen Sie es mir heute so schwer", klagt die Journalistin, "geht's nicht einfacher?" Dritter Versuch. Farnleitner blickt schon ein wenig gequält. Im Saal lässt man ihm wenigstens drei Minuten, vor der Kamera hat er dreißig Sekunden: "Wir brauchen keinen neuen Suppenkaspar, die Mitgliedsländer meistern die Ratspräsidentschaft bravourös." Die Reporterin lächelt, Hannes Farnleitner lächelt zurück. So einfach kann Europapolitik sein.

"Suppenkaspar" nennt Farnleitner den von Giscard d'Estaing vorgeschlagenen fixen Präsidenten für den Europäischen Rat. Nicht wie bisher im halbjährlichen Turnus wechselnd, soll dieser hauptberufliche Ratspräsident mindestens zweieinhalb Jahre im Amt bleiben und Kontinuität in der Ratsarbeit garantieren. "Giscard kann hier erzählen, was er will", legt Farnleitner, nachdem sich das Kamerateam wieder verzogen hat, ein Schäuferl nach. "Wenn sich das Präsidium nicht bewegt, wird der Konvent keine Erfolgsgeschichte für Giscard", droht er dem Vorsitzenden. Und "das letzte Wort hat sowieso die IGC".

"Ei-Tschi-Si" entscheidet

Der Verweis auf die "Ei-Tschi-Si", Intergovernmental Conference oder Regierungskonferenz, beherrscht die Diskussionen im Konvent. Für die eine Fraktion ist sie das Damoklesschwert, das über Wohl, eher aber Wehe der Konventsarbeit entscheidet. Für die Gegenseite ist die IGC das letzte Ass im Ärmel. So in der Art: "Kommt, lasst diese Träumer nur spintisieren, die Regierungschefs werden ihnen schon wieder die Flügel stutzen."

Mit dem Abschluss der Konventsarbeit ist die Neuordnung Europas längst nicht fertig. Am Freitag dieser Woche wird Giscard d'Estaing in Thessaloniki vor die europäischen Staats- und Regierungschefs treten und ihnen den Entwurf der ersten kontinentalen Verfassung übergeben. Dann sind wieder die Nationalstaaten Herren des Verfahrens. In einer mehrmonatigen Regierungskonferenz beurteilen sie, ob der Konvent ausreichend gute Arbeit geleistet hat. Neben dem ständigen Ratspräsidenten ist die Frage nach der Anzahl der EU-Kommissare und ob alle in Zukunft ein Stimmrecht haben, nach wie vor umstritten. Genauso wie die Regelung, wo und wann eine qualifizierte Mehrheit für Entscheidungen ausreicht, immer noch ein Streitpunkt ist (siehe Grafik und Erläuterungen auf der nächsten Seite). Besonders die Briten stemmen sich dagegen, in der Außenpolitik ihr Vetorecht einzubüßen.

"Der Verfassungsentwurf ist mangelhaft", gesteht Klaus Hänsch ein. Seit Jahrzehnten ein "Brüsselianer, weiß der frühere Präsident des Europäischen Parlaments auch den Grund: "Diese Verfassung ist nicht das Ergebnis eines Konzeptes, sondern eines Kompromisses." Und dieser Kompromiss lässt die Konventsmitglieder in der Abschlusssitzung den Worten d'Estaings Folge leisten, als dieser sie auffordert: "Steht auf für Europa!" Ein kleines Wunder, dass sich alle in diesem Moment zuprosten und zur erfolgreichen Arbeit gratulieren. "Man muss wissen, wann ein Streit zu Ende ist", brummt der Deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok, "und dies ist so ein Augenblick." Ein paar Stunden vorher hat Brok als einer der Rädelsführer im Konvent noch seine "großen Probleme" mit dem endgültigen Vorschlag des Präsidiums formuliert.

Applaus für Volksbegehren

Der riesige Ballon vor dem EU-Parlament ist prall mit Luft gefüllt, als Giscard d'Estaing mit einer Stunde Verspätung, die Verfassung unterm Arm, ins Plenum kommt. Die Aufschrift auf dem bunten Ungetüm vor dem Haus fordert ein EU-weites Referendum über die neue Konstitution. Giscard geht es in diesem Moment allein um die Zustimmung im Saal. Umringt von Konvents-Mitgliedern bahnt er sich einen Weg. Gefolgt von Maria Berger. Im knallgelben Blazer ist die österreichische EU-Parlamentarierin auch im Finale der Konventsarbeit ein Orientierungspunkt. Sie klatscht in die Hände. Hannes Farnleitner steht bei seinem Platz. Ohne Krawatte, den obersten Hemdknopf offen, sein Sakko wie einen Feldherrenmantel über die Schultern geworfen, betrachtet er skeptisch den Trubel im Saal.

Giscard hat das Pult erreicht. Mit drei Hammerschlägen verschafft er sich Ruhe. Energisch deutet Konvents-Vize Jean-Luc Dehaene den Saaldienern, die Sitzungsunterlagen auszuteilen. Das kopierte Papier ist noch warm. Der Präsident liest die Präambel vor, geht dann jede Änderung Punkt für Punkt durch. Die Möglichkeit eines Volksbegehrens soll in der Verfassung Einzug finden, referiert d'Estaing. Der Applaus von Maria Berger wird verständlich. Bei den anderen Änderungsvorschlägen vergeht Berger und den anderen österreichischen Konventsmitgliedern aber der Beifall.

Einer von ihnen, Johannes Voggenhuber, meldet sich sofort nach dem Präsidentenvortrag zu Wort: Die Grundrechtscharta soll durch einen Verweis eingeschränkt werden. "Diese Attacke kann ich nicht akzeptieren", schimpft er. Doch am späten Abend ist die Luft raus - nicht nur beim Ballon vor dem EU-Parlament."Ich hab' zuviel gekämpft in dieser Sache", stöhnt er nach dem Ende der Sitzung. Am nächsten Tag wird aber auch Voggenhuber das Glas erheben und dem Kompromiss zuprosten. "Brot kann auf hunderterlei Weise gebacken werden", hat er schon zuvor bei einer Beratung einmal gemeint, "wichtig ist nur, dass es auf den Tisch fällt."

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