Europa am Mulholland-Drive

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an der Flüchtlingskrise und angela Merkels politischem Elend zeigt sich eine düster-poetische Form europäischer Politik: "Unzuverlässiges Erzählen", die kunst des neuen Common sense. Ein kommentar.

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an der Flüchtlingskrise und angela Merkels politischem Elend zeigt sich eine düster-poetische Form europäischer Politik: "Unzuverlässiges Erzählen", die kunst des neuen Common sense. Ein kommentar.

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In "Mulholland Drive", einem Film von David Lynch, verschieben sich die Ebenen von Traum, Wahnsinn und Realität, in denen die Geschichte einer verbotenen Liebesbeziehung erzählt wird. Die Zeit löst sich gleichsam in einem Fiebertraum auf und wie wirr gleiten die Ebenen und Gefühle ineinander. Am Ende ergibt aber alles ein unglaubliches Gemälde von Stimmungen, in denen Liebe, Eifersucht und Tod verhandelt werden. Lynchs Meisterwerk ist eine Demonstration des "unzuverlässigen Erzählens" geworden. Informationen können demnach fiktiv oder wahrheitsgetreu sein, und während man darüber im Vagen gehalten wird, formt die Gewissheit der Unzuverlässigkeit einen Nebel, in dem die eigene Phantasie zur Malerin wird. In Mulholland Drive gibt nur der Untertitel die Richtung vor: "Straße der Finsternis".

Ganz ähnlicher Art ist derzeit Europas Politik, was die Zukunft der Krieg-Flüchtenden und Wohlstand-Suchenden angeht. Nicht, dass es da um Liebe und Mord ginge. Aber um die Erzeugung von Phantasmen, die letztlich wieder die Wirklichkeit bestimmen: Kulturverlust, Zivilisationsverlust, Auslöschung.

Selbst die Zeitebenen scheinen verschwommen. Horst Seehofers Forderung etwa, Asylwerber abweisen zu können -wirkt heute wie ein um drei Jahre verspätetes Ultimatum der Panik. Damals, als Tausende über die Grenzen gingen, hätte man Seehofer vielleicht verstanden. Nun, mit 22 Grenzübertritten von Asylsuchenden pro Monat, wirkt es wie ein Flashback, eine unfreiwillige Rückkehr in ein Horrorszenario, die vom deutschen Innenminister als Zukunftsvision dargestellt wird. Just dabei findet sich Seehofer in einer "Achse der Willigen" (©: Sebastian Kurz) mit jenen Staaten, denen er sein Trauma gerne überwälzen würde: den Kollegen von der österreichischen und der italienischen Regierung. Sie teilen seinen Alptraum -und das in jedem verfügbaren Forum. Aber Seehofers Flüchtlinge wollen sie keinesfalls.

In fieberhafter Eile errichten sie nun wie Deutschland "Transitzentren im Grenzraum". Bald wird jede Nation bis über den Balkan hinaus "Transitzentren" in ihre Grenzräume gestellt haben. Das gebietet die Logik der Grenzw(a)elle. Bald werden nur noch vergangenheitstrunkene Menschen daran erinnern, dass die EU dazu geschaffen worden ist, die Grenzräume abzuschaffen.

Wie Zukunft gemacht wird

Im Schatten dieser heraufdämmernden Gestrigkeiten wird aber heute Zukunft gemacht, etwa, wenn Österreich sein Programm für die EU-Ratspräsidentschaft verkündet (Seite 8). Die Herausforderung dieser Präsidentschaft ist laut Kanzler Kurz in der Hauptsache eine Sachlage: 60 Millionen Menschen, potenzielle Migranten, die derzeit noch in Afrika oder Asien aufhältig sind. Sie kommen aber gewiss -zwischen damals, heute und morgen.

Eine Strategie angesichts der Drohung? Ein Auffanglager hie und dort sind in Verhandlung, Rückübernahmeabkommen mangelhafte Mangelware, das Asyl-System ein zunehmend rechtsfreier Raum.

Tatsächlich gab es das Recht auf Asyl de jure nie. Dafür aber ein wirksames Abschiebeverbot in Länder mit unmenschlicher Behandlung, festgelegt in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Aber je weiter verbreitet die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen außerhalb Europas wird, umso mehr Grund gäbe es also für ein Asyl hier. Wer wollte einen Menschen auch gerne seinen Folterern und Vergewaltigern in Libyen oder anderen Staaten bescheidener Rechtsdurchsetzung zurückübergeben? Und trotzdem läuft es darauf hinaus.

Tatsächlich gibt es bereits jetzt eine "Koalition der Willigen". Sie umfasst die Regierungen beinahe aller Ziel-und Ankunftsstaaten, von Deutschland über Schweden bis Österreich, von Italien bis Spanien. In dieser Koalition kursierte 2017 ein Lösungs-Papier, in dem die Möglichkeiten des Außengrenzschutzes festgehalten wurden. Zentraler Punkt: Wer mit Schleppern nach Europa kommt, soll jede Möglichkeit auf Asyl verwirkt haben, zurückgeschoben werden in Lager und schließlich in ihre Heimatländer. Dass diese Regelung noch nicht verwirklicht ist, liegt an der Menschenrechtskonvention.

Alle anderen Regelwerke befinden sich bereits in Auflösung, allen voran das Dublin-Abkommen und die Regeln zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Nur die Konvention ist noch intakt. Aber wie lange noch? Eine Politik, die sich permanent im "unzuverlässigen" Erzählen übt, wird letztlich zum Schluss kommen, dass der Schutz der Strandenden vor der Gewalt draußen weniger Wert ist als der Schutz der inneren "nationalen Sicherheitsinteressen". Die Abschiebung vor die Außengrenze wird dann mit einem Federstrich zum Regelfall werden.

Aber nicht nur jenen vor den Toren Europas könnte es schlecht ergehen. Denn warum sollte die Verschiebung von Menschenrecht draußen nicht auch zum Überschreiten roter Linien im Inneren führen? Etwa wenn Italiens Innenminister schon einmal den Roma-Zensus probt -auf Europas neuem Mulholland Drive vom Gestern ins Übermorgen.

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