"Europa gibt es nicht À LA CARTE"

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Frankreichs Botschafter Pascal Teixeira da Silva über die Flüchtlingskrise, eine EU-Grenzpolizei und die mangelnde Solidarität innerhalb der EU.

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Frankreichs Botschafter Pascal Teixeira da Silva über die Flüchtlingskrise, eine EU-Grenzpolizei und die mangelnde Solidarität innerhalb der EU.

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Die Flüchtlingskrise und ihre Auswirkungen überfordern die Politik Europas und stellen die Integration in Frage. Frankreich und Deutschland haben sich in der Vergangenheit auf Ebene der Nationalstaaten als Garanten der EU dargestellt. Wie bewertet Frankreich die jüngsten Entwicklungen und welche Auswege sieht Paris?

DIE FURCHE: Ihr Premierminister Manuel Valls hat die deutsche Kanzlerin Merkel wegen ihrer Willkommenspolitik kritisiert. Kommt die Achse Berlin-Paris außer Tritt?

Pascal Teixeira da Silva: Seit dem Ausbruch dieser Krise haben Frankreich und Deutschland immer wieder versucht, eine gemeinsame Position zu finden. Und man hat das in Bezug auf die EU-Außengrenze ja auch getan. Trotzdem sollte man aus dem vergangenen Jahr eine Lehre ziehen: Wenn man eine Entscheidung trifft, dann betrifft das auch alle anderen. Man muss sich die Konsequenzen seiner Aussagen überlegen. Die Bemerkung, dass alle Syrer willkommen seien, unabhängig davon, ob sie einen Antrag in einem Schengenland gestellt haben oder nicht, das hat de facto das Dublin-System aufgehoben. Es wäre also besser, wenn man so etwas vermeidet.

DIE FURCHE: Wenn Sie von gemeinsamer EU-Politik sprechen: Ist es nicht so, dass es die gerade in der Flüchtlingsfrage nicht gibt?

Teixeira da Silva: Natürlich hat es Versäumnisse gegeben. Wenn man will, dass das Schengensystem funktioniert, muss der Grenzschutz funktionieren. Wir wollen eine Verstärkung der Agentur Frontex. Mittelfristig sollte Frontex der Kern eines europäischen Grenzschutz- und Küstenwachsystems werden.

DIE FURCHE: So ein Grenzschutz wird sehr viel Geld kosten. Mit welcher Größenordnung rechnen Sie da?

Teixeira da Silva: Wir haben schon in dieser Richtung gearbeitet, aber das Ausmaß des Bedarfs ist noch nicht festgelegt. Sicher ist, dass der Bedarf hoch sein wird und dass wir diesen Schutz unbedingt brauchen werden. Wir haben das zu lange vernachlässigt. Wir haben etwas errichtet, das in normalen Zeiten funktioniert, aber nicht in solchen Zeiten des Krieges, mit einem hohen Zustrom von Flüchtlingen.

DIE FURCHE: Weil wir gerade von Mitteln sprechen. Wochen und Monate bat die UNO dringend um weitere Mittel aus Europa für die Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien und bis heute fehlen Milliarden.

Teixeira da Silva: Es sollte eigentlich Aufgabe der Politiker sein, zu erklären, dass jeder Euro, der in den Lagern ausgegeben wird, Euros in Europa erspart, die für Flüchtlinge bei uns ausgegeben werden müssen. Die vorherrschende Meinung ist: Je ferner der Ort ist, wo Geld ausgegeben wird, desto unsicherer ist, dass die Hilfe auch ankommt.

DIE FURCHE: Aber ist nicht der Unwillen zur Hilfe in der EU ganz allgemein gewachsen? Die Visegrádstaaten verweigern jede Flüchtlingsaufnahme.

Teixeira da Silva: Die EU beruht auf Werten und Prinzipien. Menschen, die vor kriegerischen Konflikten fliehen, muss geholfen werden. Das ist auch eine Frage internationalen Rechts. Dazu kommt noch die Verpflichtung zur Solidarität innerhalb der Union. Es kann kein Europa à la carte geben. Man kann nicht die Solidarität der anderen erhalten, wenn man selbst Solidarität verweigert. Außerdem kann es keine nationalen Lösungen geben. Manche meinen, dass - indem sie sich von den Problemen isolieren -alles in Ordnung zu bringen wäre. Aber damit wird das Problem nur auf die Nachbarländer verschoben. Das wäre nicht mit den Werten vereinbar. Das gilt für alle. Vielleicht haben diese Länder die Software der EU nicht verstanden.

DIE FURCHE: Die Visegrádstaaten behaupten immer wieder, dass die Flüchtlinge gar nicht zu ihnen wollten. Gäbe es nicht die Möglichkeit für diese Länder, eine Entsschädigungszahlung an jene Länder zu leisten, die eindeutig Ziel der Flüchtlinge sind?

Teixeira da Silva: Ja, das ist denkbar. Wir haben einen ähnlichen Vorschlag gemacht, als die französischen Streitkräfte gegen die Terroristen kämpften. Auch das sollte den anderen Ländern etwas wert sein. DIE FURCHE: Aber gibt es nicht auch in Frankreich große Probleme im Umgang mit den Flüchtlingen? Wenn man etwa auf die Situation in Calais blickt?

Teixeira da Silva: Das ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es mehr als 4000 Flüchtlinge, die nach Großbritannien wollen. Aber sie wollen auch keinen Asylantrag in Frankreich stellen und sie wollen nicht in Frankreich bleiben. Was soll man also machen? Verteilung der Flüchtlinge ja, aber bleiben sie auch dort, wo man sie hinschickt? Calais hat die Wahrnehmung des Problems beeinflusst. Die Franzosen fragen sich: Wenn man jetzt noch mehr Flüchtlinge aufnimmt, was wird dann passieren? Wird es dann nicht bald 40.000 Flüchtlinge in Calais geben? Man darf die Sorgen nicht übersehen. Deshalb ein besserer Schutz der Außengrenze und eine starke Unterscheidung zwischen Hilfsbedürftigen und anderen Flüchtlingen. DIE FURCHE: Dieser Schutz soll nun auch über Abkommen mit der Türkei erreicht werden. Aber der Präsident Erdogan, scheint die Flüchtlinge dazu zu benützen, politisches Kleingeld zu machen. Phasenweise schien die Türkei die EU da regelrecht zu erpressen. Teixeira da Silva: Es gilt das Realitätsprinzip. Man muss im Gespräch bleiben. Manche Dinge, die gesagt wurden, wurden ja auch an die Adresse der türkischen Innenpolitik gerichtet. Wir müssen sehen, dass die Türkei auch erhebliche Probleme hat, weil sie mehr als zwei Millionen Flüchtlinge auf ihrem Territorium versorgen muss. Aber wir lassen uns hier sicher nicht drohen.

DIE FURCHE: Sie haben über die Verantwortung Europas in Nordafrika gesprochen und nun gibt es Meldungen aus Libyen, wonach der IS dort immer mehr an Bedeutung gewinnt. Was hat denn Europa falsch gemacht, dass die arabische Revolution derart aus dem Ruder gelaufen ist?

Teixeira da Silva: Wie lange hat es gebraucht, um die französische Revolution zu stabilisieren? Mindestens 25 Jahre. Eine Revolution ist die Umwandlung einer Gesellschaft, nicht nur ein politisches Ereignis.

DIE FURCHE: In Frankreich kam gleich nach dem Aufstand die Periode der "Grande Terreur", der Herrschaft des Terrors. Erleben wir eine historische Parallele?

Teixeira da Silva: Wichtig ist: Eine Revolution ist kein lineares Phänomen. Es gibt große Unterschiede zwischen den Nationen der arabischen Welt. Tunesien, Marokko, Ägypten haben starkes Nationalbewusstsein. Andere sind schwächer entwickelt, etwa Libyen, Irak, Syrien, wo es mehrere Ethnien oder Religionen gibt und der Zusammenhalt schwach ist.

DIE FURCHE: Und was soll Europa nun tun?

Teixeira da Silva: Eine Schlüsselfrage ist die Wirtschaft. Je unsicherer die existenzielle Lage, desto unsicherer die Demokratie. Im Übrigen sollte man sich an Hippokrates halten: Primum non nocere. Vor allem nicht schaden. Im Irak haben die Amerikaner dieses Prinzip verletzt. Nächste Frage: Sollen unsere Demokratien dort langfristig engagiert bleiben? Heute werden Streitkräfte verringert oder zurückgezogen. Deshalb sollte man vorsichtig sein. Es braucht eine langfristige Strategie. Aber es gibt nirgendwo eine militärische Lösung. Man sieht das am Einsatz von Russland in Syrien. Man kann nicht einerseits in Genf verhandeln und andererseits Aleppo bombardieren und die Hilfe für die Zivilbevölkerung blockieren. Das spielt dem IS in die Hände.

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