Europa hinter Stacheldraht

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Begehrtes Ziel für Flüchtlinge wie für Schmuggler: die spanische Exklave Melilla.

Es ist ein fantastischer Ort zum Einkaufen: Niedrige Preise, Steuervorteile und vielfältige Attraktionen!", so das Tourismusbüro der Stadt im bunten Prospekt. "Immer mehr Menschen wollen Melilla kennen lernen." Doch aus Europa kommen nur wenige Touristen - und die Afrikaner, die versuchen, in die Stadt zu kommen, sind im Prospekt nicht gemeint.

Melilla, das sind 13 Quadratkilometer Spanien an der afrikanischen Mittelmeerküste, umgeben von marokkanischem Staatsgebiet und einer zwölf Kilometer langen Grenzanlage. Hier stoßen Europa und Afrika unmittelbar zusammen. Melilla ist das Fenster, von dem aus zwei Kontinente betrachtet werden können", wirbt der Prospekt. Wenn man direkt am Grenzzaun steht, verschwimmen die Perspektiven: man weiß plötzlich nicht mehr, wer ein-und wer ausgesperrt ist.

Dem meterhohen Doppelzaun, mit Stacheldraht bewehrt und Wachtürmen versehen, verdankt die Stadt seit dem letzten Jahr eine traurige Berühmtheit. 4000 Afrikaner versuchten von August bis Oktober 2005, die Zäune von Melilla und der Schwesterexklave Ceuta zu überwinden. Zwei Drittel scheiterten, mindestens vierzehn Menschen verloren ihr Leben und Hunderte wurden verletzt.

Illegale vor Polizei schützen

"Es sind immer Leute über die Zäune gekommen, seit es sie gibt," erzählt der 47-jährige Lehrer José Palazon. "Sie wurden nach einer Prüfung entweder abgeschoben oder nach Andalusien weitergeschickt. Die Stadt konnte damit leben" - bis zum letzten Jahr. Palazon ist Vorsitzender einer Kinderrechtsorganisation, die sich um marokkanische Straßenkinder in Melilla kümmert.

Seit ein paar Jahren halten er und einige Vereinsmitglieder auch Kontakt zu den Flüchtlingen im Wald jenseits der Grenze. Sie bringen ihnen Lebensmittel oder besorgen Asylanträge und dokumentieren Übergriffe durch Militär und Polizei, um die völlig rechtlosen "Illegalen" zu schützen - und um anzuklagen. Palazon hat viele Fotos. Eines zeigt einen Afrikaner mit geschwollenem Fußgelenk, das mit einem Gewehrkolben zerschlagen wurde, auf anderen sieht man Verletzungen durch Gummigeschosse, zerschnittene Hände und Beine, blutige Kleiderfetzen im Stacheldraht und reglose Körper am Fuß der Zäune. Der Verein hat ein Video mit Zeugenaussagen über schwere Misshandlungen durch Grenzer auf beiden Seiten und Aufnahmen von illegalen Rückschiebungen nach Marokko an die Staatsanwaltschaft und die UNO geschickt. Eine auch von internationalen Menschrechtsorganisationen geforderte unabhängige Untersuchung der Vorfälle hat es aber bis heute nicht gegeben.

Die Razzien gehen weiter

Palazon hat noch immer Kontakt zu Flüchtlingen im Wald auf der marokkanischen Seite. "Mal sind es dreißig, mal zehn, es ist nicht mehr möglich, sich dort länger aufzuhalten," erzählt er. "An jeder Wasserquelle steht ein Soldat, Dorfbewohnern drohen Strafen, wenn sie schwarzen Menschen Lebensmittel oder Wasser geben." Die Razzien gehen weiter. Es wird scharf geschossen, wenn sich vermeintlich Illegale einer Verhaftung widersetzen, weiß Palazon von Ärzten im Provinzkrankenhaus von Nador - und das Internationale Rote Kreuz berichtet auch in diesem Jahr von Deportationen in vermintes mauretanisches Wüstengebiet.

Tränengas, Pfefferwasser ...

Derweil wird an der bereits hochtechnologisch mit Bewegungsmeldern, Richtmikrofonen, Kameras und Nachtsichtgeräten ausgestatteten Grenzanlage um Melilla weitergebaut. Zwischen den Zäunen wird ein Netz von Seilen gespannt, in dem sich verfängt, wer die erste Höhe überwunden hat. Tränengas, Blendlicht, Duschen mit Pfefferwasser werden installiert. Ende des Jahres wird die modernste Grenzanlage der Welt fertig sein, unüberwindbar aber human, weil ohne verletzenden Stacheldraht und Einsatz von Munition.

Tote soll es dann nicht mehr geben, so wie noch Anfang Juli. Erstmals seit dem letzten Herbst hatte wieder ein Gruppe von Afrikanern versucht, über die Zäune zu kommen. Zwei von ihnen wurden erschossen, einer stürzte zu Tode. Die Guardia Civil beschuldigt die marokkanischen Sicherheitskräfte und umgekehrt. Wieder fordern Menschenrechtsgruppen eine unabhängige Untersuchung. Aber die Chancen stehen noch schlechter als im letzten Jahr.

"Melilla", so der Prospekt der Stadt, "ist das verbindende Band zwischen den Kontinenten." Stahl, Eisen und Fischereiprodukte verlassen den Hafen Richtung Europa - Pornos, gefälschte Markenartikel und allerhand Elektro-und Wohlstandsmüll kommen von dort. In Hallen nahe der Grenze wird die europäische Ware verteilt, in großen Bündeln gegen einen Obolus meist von Frauen am Zoll vorbei hinübergetragen und von organisierten Händlern weitertransportiert, bis in die Nachbarländer.

Schmugglerparadies

Noch sind Schmuggel und Zollfreiheit wichtige Einnahmequellen in der Garnisonsstadt Melilla. Wenn 2010 die Freihandelszone im Mittelmeerraum eingerichtet wird, werden sie wegfallen. Dann wird nur noch das Hin und Her der Menschen reglementiert. Allein wer in der Nachbarprovinz Nador gemeldet ist, kann ohne Visum einreisen und für den kleinen Grenzverkehr eine Chipkarte bekommen. Darauf ist der Fingerabdruck gespeichert. Identifiziert wird an den Kontrollpunkten blitzschnell per Scanner. 30.000 Fußgänger passieren täglich die Grenze, gehen auf die Märkte oder zur Arbeit. Melillas Wohlstand rührt auch von den billigen Arbeitskräften aus dem Umland. Die Chipkarte berechtigt nur zum Aufenthalt bei Tage. Abends muss die Exklave verlassen werden.

Zurück an Marokko?

Man schätzt, dass sich neben den 60.000 Einwohnern Melillas noch einmal halb so viele illegal in der Stadt aufhalten. Die meisten davon vorübergehend, 10.000 dauerhaft. Trotzdem gab es nur wenige Legalisierungen im letzten Jahr, als in Spanien 600.000 Papierlose die Residenzerlaubnis bekamen. Mit fadenscheinigen Gründen, so meint Palazon, wurden in Melilla viele Anträge abgelehnt. Die spanische Mehrheit hat Angst, im Falle einer Abstimmung über den Status der Stadt, den Marokko als kolonialen Anachronismus betrachtet und nicht anerkennt, in die Minderheit zu geraten. Vierzig Prozent der legalen Einwohner sind Muslime, die meisten stammen aus Marokko, aber sie wollen alles andere, als zu Marokko gehören. Sie leben in Melilla, weil hier Europa ist.

Es gibt auch eine jüdische und eine hinduistische Gemeinde. Als "Stadt der vier Kulturen" begreift sich Melilla und stellt sich nicht nur im Prospekt gerne als kulturell vielfältig und tolerant dar. Wenn man im Stadtzentrum auf der gefliesten Plaza am Brunnen sitzt, neben Krishna-Sängern und Männern in langen marokkanischen Gewändern, dann ahnt man, dass es so sein könnte. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Die sozialen Unterschiede sind groß. Die Mehrheit der Muslime wohnt in engen Vierteln am Stadtrand mit hoher Arbeitslosigkeit oder Arbeit im Niedriglohnbereich. Die christlichen Spanier leben im Zentrum und durch Gehaltszulagen und steuerliche Vorteile sogar besser, als auf der anderen Seite des Mittelmeeres.

Drei Generationen illegal

In den Vierteln Canada de Hindun und Reina Regente leben die "Illegalen" schon in der dritten Generation ohne Aufenthaltspapiere. Der Lebensstandard ist niedrig, die Frustration hoch, und die Polizei hat wenig Autorität. Als 2001 die Grenzkontrollen verschärft und die Chipkarte eingeführt wurde, gab es Unruhen. Die Begründung Terrorabwehr verstärkte das Gefühl von Ausgrenzung bei vielen Muslimen. Bürgermeister José Embroda befürchtete eine "soziale Explosion", so angespannt war die Lage.

"In Melilla", so der Prospekt, "gibt es die ganze Welt zu sehen". Tatsächlich aber sieht man nur das Spiegelbild Europas auf seiner gegenüber liegenden Mittelmeerküste. In diesem ausgelagerten Flecken verdichten sich Europas Widersprüche auf engstem Raum - und so wie auf dem Kontinent klaffen auch hier Selbstbild und Realität auseinander.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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