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Laudatio und Rezension zugleich: Zum 90. Geburtstag von Balkan-Spezialist Wolfgang Libal und anlässlich des Erscheinens von Libals neuem Buch macht sich ein Freund des Jubilars Gedanken zur Lage Europas - aus der Libal-Perspektive.

In einer vieldiskutierten Studie mit dem Titel "Das 20. Jahrhundert verstehen" versucht der brillante deutsch-israelische Historikers Dan Diner die Entwicklung von 1914 bis 1989 von den Stufen von Odessa aus zu betrachten. In seinem jüngsten Buch "Zeuge am Zaun der Zeit. Von Masaryk zu MiloÇsevi´c" betrachtet Wolfgang Libal das 20. Jahrhundert aus dem Blickwinkel der Donau-Save-Mündung oder des Donaudeltas, um noch etwas weiter in die Ferne zu schweifen, und sein Blick ist geschärft durch prägende Erfahrungen an der Moldau und durch seine Kenntnisse jenen Teil Europas, den man von der Prager Karlsbrücke aus überblickt. Das Thema von Wolfgang Libal, dem großen Journalisten und hervorragenden Balkan-Kenners, war und ist ja in Wirklichkeit nicht MiloÇsevi´c oder Adenauer, Ceausçescu oder Tito, obwohl er beträchtliche Energie aufgewandt hat diese und viele andere Persönlichkeiten journalistisch in den Griff zu kommen. Sein Thema, das ist in Wirklichkeit das 20. Jahrhundert - als Journalist, versteht sich.

Anfang des 21. Jahrhunderts haben wir zwar mit Wolfgang Libal das Wissen um die zahlreichen versunkenen Reiche des 20. Jahrhunderts, aber wo wir selbst stehen in Europa, das wissen wir nicht so genau. Da ist das große Projekt der Europäischen Integration, der Vereinigten Staaten von Europa; das wäre, wie es ein französischer Europa-Minister einmal gesagt hat, der Versuch einer neuerlichen umfassenden Reichsgründung nach den Erfahrungen des Zerfalls der Vergangenheit. Aber gleichzeitig wirkt heute die Politikerkaste in Europa oft so abgehoben wie das Staatspräsidium in Belgrad mit seinem Rotationsprinzip in den achtziger Jahren, das Libal beschreibt. Und es sind die obskursten zentrifugalen Tendenzen, die Schlagzeilen machen. Wobei eines der ersten Warnsignale vielleicht nicht zufällig aus Wien gekommen ist. Wir wissen nicht genau: Sind das die Geburtswehen der von vielen erhofften Überwindung des 20. Jahrhunderts mit seinen Tragödien und Katastrophen, oder sind das die Ermüdungserscheinungen eines zum dynamischen Zusammenwachsen unfähigen alten Kontinents?

Zellennachbar in Haag

Die Erfahrungen Wolfgang Libals, mit dem Aufstieg und Niedergang von Reichen und Imperien, die er verfolgt hat, können uns vielleicht helfen bei der Beurteilung der politischen Lage in Europa. Einige aktuelle Fragen, die sich mir bei der Lektüre seines Buches aufgedrängt haben, will ich im Folgenden anführen:

* Erstens: Da ist die zerstörerische Wirkung der nationalistischen Reaktion auf vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierung oder andersgeartete Benachteiligungen in Europa. In Gesellschaften, die sich aus einem Kolonialstatus befreien mussten, mag das anders gewesen sein. Dort mögen Nationalbewegungen eine gewissen Zeit aufbauende gesellschaftliche Rolle gespielt haben. Aber hat in Europa der nationalistische Reflex nicht fast immer im Desaster geendet?

Wolfgang Libal beschreibt das überzeugend, wenn er von der Tschechoslowakei der Vorkriegszeit spricht. Egal ob er die antideutsche Stimmung in der damaligen tschechischen Öffentlichkeit beschreibt oder ob er davon spricht, wie rasch unter den Deutschen die Sympathien mit dem nationalsozialistischen Regime jenseits der Grenze gewachsen sind. Oder sehen wir uns den tödlichen Reigen der Nationalismen beim Zerfall Jugoslawiens an. Wie sehr das Zusammenspiel des großserbischen Chauvinismus von Slobodan MiloÇsevi´c mit dem kroatischen Separatismus eines Franjo Tudjman für den Weg des Zerfalls im Krieg entscheidend war, das haben uns Wolfgang Libal und seine Frau Christine von Kohl in den letzten Jahren wieder und wieder auseinandergesetzt. Wie groß dabei die Verantwortung von MiloÇsevi´c war, das beschäftigt zur Zeit die Richter in Den Haag. Wäre Franjo Tudjman nicht gestorben, gut möglich, dass er es zum Zellennachbar seines serbischen Gegenüber gebracht hätte.

Und tatsächlich sind ja auch die großen demokratischen Revolutionen von 1989, mit denen das Jahrhundert vielversprechend geendet hat, nicht unter dem primären Vorzeichen der nationalen Selbstbestimmung gestanden, sondern unter dem von Freiheit und Demokratie. Hat es sich somit in Europa nicht fast immer als Illusion erwiesen, dass eine Besinnung auf nationale Werte Positives bewirken kann? Sollten nicht Warnsignale hochgehen, jedes Mal wenn irgendwo von Renationalisierung die Rede ist, egal, in welchem Bereich?

Gefährliche Farce

* Zweitens: Wie zweischneidig ist Geschichtsbewusstsein, wie gefährlich das Comeback der Geschichte in politischen Krisensituationen? Der Begriff des Geschichtsbewusstseins war für meine Generation sehr positiv besetzt. Und tatsächlich ist etwa die demokratische Erfolgsgeschichte Westeuropas und insbesonders der Bundesrepublik Deutschland eng verbunden mit einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Geschichte, zum Teil erzwungen durch die Studentenbewegung der sechziger Jahre. In Österreich ist das alles viel langsamer und später gekommen, aber bis heute ist ein starker Glaube an eine die Demokratie stärkende Wirkung der Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte nicht zu übersehen. Als jüngstes Beispiel sei nur der große Zulauf zur Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht in Wien genannt.

Als ich knapp nach Titos Tod das erste Mal längere Zeit nach Jugoslawien gekommen bin, da war mein größter Schock das unversöhnliche Aufeinanderstoßen einander völlig entgegengesetzter nationaler Narrative zur jüngeren Geschichte. Jede Volksgruppe schien einen absolut überzeugenden historischen Grund zu haben, den jeweiligen Nachbarn zu hassen oder zumindest irgend etwas an seiner aktuellen Situation als illegitim anzusehen. Wolfgang Libal beschreibt sehr eindrücklich, wie die nationalen Mythen die Völker hypnotisiert haben und zu tödlichen Waffen wurden. Wie viel nicht verarbeitete Geschichte auch einige Breitengrade nördlicher vorhanden ist, das erleben wir seit einigen Monaten. Was auf dem Balkan zur Tragödie wurde, sieht in unseren Regionen eher als Farce aus, mit Vetodrohungen und Ultimaten. Aber es ist eine höchst gefährliche Farce. Wenn sich die Politik der Geschichte bemächtigt und Mythen kreiert, um Schlachten ganz anderer Art zu schlagen, dann ist auf jeden Fall Vorsicht geboten. Auch das ist ein Schluss, der sich nach der Lektüre des Buches von Libal aufdrängt.

* Drittens: Wolfgang Libal beschreibt die Faszination Jugoslawiens, und er fragt sich, was diese Faszination so unwiderstehlich gemacht hat. Er führt die wilde Natur an, die Vielfalt der Völker und Religionen und auch diese unerhörte Macht der Geschichte. Aber zwischen den Zeilen ist da noch ein weiterer Faktor zu spüren: Es war die in Europa einzigartige rebellische Tradition des Jugoslawiens von Josip Broz Tito, das dieses Land so spannend gemacht hat. Als einzige in Europa haben die jugoslawischen Kommunisten aus eigener Kraft, ohne entscheidende Hilfe der Roten Armee die Macht ergriffen. Als einzige haben sie es gewagt, Stalin noch zu dessen Lebzeiten die Stirn zu bieten. Als einzige haben sie versucht, aus dem Schema des Kalten Krieges auszubrechen.

Verkörpert hat diesen Weg wie kein anderer Milovan Djilas, dessen Wohnung in der Palmoticeva Ulica für alle westlichen Korrespondenten in Belgrad zum Fixpunkt wurde. Mit brennenden Augen hat man im Westen Djilas Gespräche mit Stalin oder seine Neue Klasse gelesen. Für Wolfgang Libal und Christine von Kohl war er Freund und Gesprächspartner.

Natürlich, es hat viel Repression gegeben in Jugoslawien und letztlich war es ein Polizeistaat. Ich habe in den achtziger Jahren mit einer Solidaritätsgruppe für Osteuropadissidenten rund um Zeitschrift Gegenstimmen zusammengearbeitet und mehrmals aus Jugoslawien berichtet. Es war unübersehbar, wie total anders die Stimmung hier im Vergleich etwa zur Tschechoslowakei oder selbst zu Ungarn war, obwohl wir hier genauso wie dort Unterschriften für verfolgte Dissidenten gesammelt haben. Milovan Djilas war bis zuletzt der jugoslawischen Idee verbunden geblieben und auch Wolfgang Libal ist so etwas wie ein Jugo-Nostalgiker. Diese Gefühle sind absolut nachvollziehbar. Schließlich ist es keineswegs auszuschließen, dass unter dem Vorzeichen einer Annäherung an die Europäische Union nicht doch einmal wieder eine engere Verbindung zwischen den südslawischen Völkern geben wird, auch wenn das zur Zeit wie ferne Zukunftsmusik klingt.

Aber der jugoslawische Vielvölkerstaat ist unter Tito nicht nur durch dessen starke Hand, die Partei oder den Geheimdienst zusammengehalten worden. Er überstand manche Krise auch deshalb, weil er das Resultat einer Volksrevolution und eines Partisanenkrieges mit breiter Basis in der Bevölkerung gewesen war. Zerbrochen ist er, als die staatlichen Organe die Bodenhaftung verloren haben und nur mehr eine herrschende Kaste verblieben ist, ohne eine die Völker zusammenhaltende Idee, die dem aufstrebenden Nationalismus entgegengehalten werden konnte. Auch das ein Mechanismus, der vielleicht über den konkreten jugoslawischen Fall hinaus von Relevanz ist.

* Der vierter Punkt, der mich im Buch Wolfgang Libals ganz besonders zum Nachdenken angeregt hat, das ist die Art in der immer wieder die Sowjetunion, Russland in seinem Bericht auftaucht. Da ist einmal die unglaubliche Szene, wie Chruschtschow, Gromyko und die anderen Vertreter des Präsidiums der KPdSU 1955 in Belgrad ankommen, um sich für den stalinistischen Bannspruch gegen Tito zu entschuldigen. Und Titos Miene verfinstert sich von Minute zu Minute, weil die Erklärungen der russischen Seite erkennen lassen, dass auch Chruschtschow offensichtlich nicht verstanden hat, wie tief dieser Bruch gegangen ist, und dass es nicht damit getan ist, die ganze Angelegenheit auf Fehltritte Stalins und Berijas zurückzuführen. Es ist eine tolle Szene, die belegt, wie schwer es selbst für Chruschtschow - der sein Land vom Terror befreit hat und Millionen Lagerinsassen aus dem Archipel Gulag entlassen hat - zu begreifen war, was der Stalinismus angerichtet hat.

Von Russland lernen

Tito und Chruschtschow haben sich schließlich arrangiert. Zurückgeholt in den sowjetischen Einflussbereich konnte Jugoslawien bekanntlich trotzdem nie mehr werden. Aber die Entwicklung in Moskau blieb trotzdem für den Balkan von riesiger Bedeutung. Das gilt bis in die jüngste Zeit, beispielsweise dem Ausgang des Kosovokriegs, wo es ja ein Kurswechsel Moskaus war, der MiloÇsevi´c zur Beendigung des Krieges bewegt hat. Der zweite Punkt, wo die Sowjetunion bei Libal auftaucht, ist im Bericht über den Besuch Adenauers in Moskau 1955 und die ungeheuren Hoffnungen, die damals mit dieser Zusammenkunft verbunden waren.

Beide Szenen sollten uns daran erinnern: ohne konstruktive Beziehung zu Russland sind Sicherheit und Stabilität in Europa schwer möglich. Aber eine wirklich konstruktive Beziehung wird nur möglich sein, wenn Europa seine Partner auch unter den lebendigen Kräften der russischen Demokratie sucht, und man sich nicht auf eine Führung beschränkt, die dem Westen zwar nach dem Mund redet, es im eigenen Land aber weder mit der Pressefreiheit oder den Menschenrechten so recht ernst nimmt.

Christine von Kohl hat mich auch noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam gemacht: So könnte doch Europa gerade in Zeiten der Kritik am liberalen Wirtschaftsmodell ganz besonders von der sozialen Dimension der russischen Tradition profitieren.

Ich möchte mit einer sehr persönlichen Bemerkung enden: Das Wien, das Wolfgang Libal in seinem Buch beschreibt, mit dem Bundespressedienst und der eigentümlichen Personalisierung aller politischen Fragen, das ist mir sehr vertraut. Ich kenne es von den Erzählungen meines Vaters, der in genau dem Bundespressedienst gearbeitet hat. Ich habe es als Schüler im Wien der sechziger Jahre erlebt, mit Lehrern, die von Stalingrad nicht los gekommen sind und den alltäglichen antisemitischen Witzen. Und dann als junger Student an der Wiener Universität. Ich gehöre zur Generation politisch Interessierter, die sich sehr rasch nach Westen gewandt haben, nach Paris und Rom, und vorerst für die eigene Nachbarschaft wenig Interesse hatten. Das hat nicht wahnsinnig lange gehalten. Bald begannen wir nach Prag und Budapest zu fahren, zur Charta 77 in der Tschechoslowakei und zu den dissidenten Lukács-Schülern in Budapest. Nach Korcula, zu den Großmeistern des undogmatischen Marxismus der jugoslawischen ,,Praxis"-Schule und schließlich auch nach Zagreb und Belgrad. Aber an vielen von uns haftet doch nach wie vor ein sehr eingeschränkter Horizont und Erfahrungskreis.

Den Blick des professionellen Journalisten, des begeisterten Balkan-Kenners und gleichzeitig des leidenschaftlich engagierten Demokraten, den haben Wolfgang Libal und Christine von Kohl uns vorgezeigt. In seinem Buch blickt Libal aber genauso auf das vergangene europäische Jahrhundert zurück, und dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken.

Der Autor ist ORF-Journalist. Löw hat diesen Text bei der Buchpräsentation und gleichzeitigen Geburtstagsfeier für Wolfgang Libal vorgetragen.

ZEUGE AM ZAUN DER ZEIT.

Von Masaryk zu MiloÇsevi´c.

Von Wolfgang Libal.

Literas Universitätsverlag, Wien 2002

227 Seiten, brosch., e 16,-

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