Europas Kernland an der Kippe

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Seit Juni ohne Regierung - nun auch wegen herabgestufter Kreditwürdigkeit international in Bedrängnis. Belgien bewältigt seine Probleme nicht.

Das alte Belgien steht in der Morgensonne und raucht. Genüsslich. Entspannt. Unprätentiös. Belgisch eben. Eine Kippe zwischen zwei Touren im Gezwitscher der Vögel. Genau richtig, morgens halb zehn in Enghien. Das alte Belgien heißt Christian Nuttinck. Er blinzelt im hellen Licht. Alt ist er eigentlich nicht, der Busfahrer, der dort am Bahnhof der Kleinstadt auf Fahrgäste wartet. 48, und er sieht eher noch jünger aus.

Seine Biografie aber ist charakteristisch für das mehrsprachige Land: geboren in Flobecq, einem Dorf genau an der Grenze zwischen Flandern und Wallonien, das von seinen flämischen Eltern Vloesberg genannt wird. Genau wie heute die eigenen Kinder, besuchte er eine frankophone Schule. Zu Hause wird dennoch niederländisch gesprochen, denn seine Frau ist Flämin. Sich selbst nennt Christian Nuttinck einen "evolutionierten Wallonen“. Er nickt freundlich und steigt in den Bus, um die Tour nach Gerardsbergen zu fahren. Dazwischen liegt die Sprachgrenze.

Zerfallen im Sprachenstreit

Ende März spielten sich im Städtchen Enghien, eine halbe Stunde südlich von Brüssel gelegen, ganz andere Szenen ab. "Belgien, zerbreche!“, skandierten zweihundert Anhänger der rechtsradikalen Organisation Voorpost. Das alte Belgien, das pragmatische, mehrsprachige Land Christian Nuttincks, ist ihnen verhasst. Sie fordern ein neues, unabhängiges Flandern, und durch die politische Dauerkrise wittern sie Morgenluft. Vor einem Jahr stürzte die Regierung über den Sprachenstreit rund um die Hauptstadt, aus den Neuwahlen im Juni ging die separatistische Neu- Flämische Allianz als Siegerin hervor. Seither konnten sich niederländischsprachige und frankophone Parteien nicht auf eine neue Koalition einigen.

Radikale Flamen wollen daher nicht länger über eine Regierung verhandeln, sondern über die Spaltung des Landes. Das riefen sie auch in Enghien, aus einem Meer schwarz-gelber Fahnen heraus, auf denen der flämische Löwe drohend die Klauen erhob. In der Nähe des Rathauses trafen sie auf hundert Menschen, die das genau umgekehrt sahen. Es roch nach Konfrontation, Parolen flogen hin und her, die Polizei hatte Mühe, die Gruppen auseinanderzuhalten. Als die Aktivisten in ihren Bussen die Stadt verließen, kehrte die Ruhe nach Enghien zurück. Nein, es gibt keine Probleme hier, sagen die Bewohner. Die Parolen, die Fahnen, alles wirkt wie ein Spuk.

Lieselotte Deschutter findet, es sei an der Zeit für eine Gegenbewegung. Mit einigen Hundert jungen Bewohnern Gents hat die 19-jährige Studentin auf dem Kouter, einem Platz im Stadtzentrum, soeben die "Frittenrevolution“ ausgerufen. Es ist ein sonniger Abend Ende März, und Belgien überholt an diesem Tag den Irak als das Land, das am längsten ohne offizielle Regierung ist. In einem weißen Büdchen gehen im Akkord Pommesschalen über den Tresen. Schwer liegt der ölige Geruch über dem Platz. Die Revolutionäre sitzen auf dem Boden, essen Fritten und trinken Bier aus roten Dosen. Für die Einheit des Landes.

Hinter der Frittenrevolution steht die Plattform "Niet in onze naam - Pas en notre nom“. Zum Anlass des Weltrekords organisierte sie im Frühjahr in allen Studentenstädten Happenings im Zeichen der Kartoffelstäbchen, zu denen 15.000 Menschen kamen. Der selbstironische Charakter war ein gefundenes Fressen für internationale Medien, doch das Anliegen dahinter war ernst. "Wir brauchen dringend eine föderale Regierung. Allein schon für die soziale Sicherheit“, fordert Lieselotte Deschutter. Ihr Mitstreiter Houwe Vanhoutteghem beklagt mit Blick auf die Regionalisierung des Landes, die seit vier Jahrzehnten andauert: "Sie haben schon den Unterricht, die Medien und die Kultur getrennt. Wir wollen nicht, dass die Sprachgruppen gegeneinander aufgebracht werden.“

Eine Frittenrevolution

Paul-Henry Gendebien schwebt eine andere Lösung vor. Am Ende seiner Sehnsucht steht Frankreich, der große Nachbar, der den frankophonen Landesteilen Unterschlupf bieten soll. Rattachisme heißt diese Idee, politisch vertreten wird sie vom Rassemblement Wallonie-France (RWF), und Paul- Henry Gendebien ist dessen Präsident. Wie immer steht er vor einer wallonischen Flagge, die rechts und links von einer französischen umrahmt wird. Etwa 150 Zuhörer haben sich im Festsaal der Brasserie François in der wallonischen Hauptstadt Namur versammelt.

"Wohin geht Belgien?“ ist das Motto des Abends. Eine rhetorische Frage, denn dass das Land eines Tages verschwindet, steht für Gendebien fest. Der Stillstand der Verhandlungen, der Dauerstreit über eine weitere Regionalisierung, all das sind Anzeichen, dass der Tag näher kommt. 71 Jahre ist Gendebien, der mit seinem silbernen Scheitel und dem dezenten braunen Anzug wie ein feinsinniger Großvater wirkt. "1988 hätte auch niemand den Fall der Mauer vorhergesagt“, deutete er unlängst in einem Interview an. Durch die Brasserie François weht an diesem Abend der Wind der Geschichte. "Wollen wir bis 2013 so weitermachen?“, ruft Gendebien.

An der Sprachgrenze deutet am Tag darauf nichts auf eine vorrevolutionäre Situation hin. Ein paar Kilometer hinter Enghien liegt die flämische Siedlung Kokejane im mittäglichen Tiefschlaf. Das "Esscafé Erbsünde“ hat geschlossen, der Zeitungskiosk auch, der Het Laatste Nieuws ebenso anpreist wie das Le Soir Magazine. Am Kreisverkehr haben sich drei Straßenarbeiter zur Pause niedergelassen. Verändert hat sich durch die Dauerkrise nichts für sie. "Das Leben läuft normal“, findet Stéphane, der eine Bierdose hinter der Kühltasche verbirgt. Und dazu gehört inzwischen auch, keine Regierung zu haben. Dass sich daran bald etwas ändert, erwartet er nicht.

Quadratur des belgischen Kreises

Manchmal kommt in diesem Frühjahr der Gedanke an "Bye Bye Belgium“ auf, eine fiktive Sondersendung über die Abspaltung Flanderns im frankophonen Staatsfernsehen RTBF. 2006 löste sie hysterische Reaktionen aus, weil die Zuschauer alles für bare Münze nahmen. Seither wird "Bye Bye Belgium“ immer mehr zu einer Prophezeiung, die sich selbst zu bewahrheiten scheint. Der Prophet, RTBF-Journalist Philippe Dutilleul, sieht sich tatsächlich als eine Art Rufer in der Wüste. Er schrieb das Skript, um auf einen existenziellen Widerspruch aufmerksam zu machen. "Die Frankophonen träumen noch immer von einem vereinten Belgien, während die Flamen nach Autonomie streben.“

An der Quadratur des belgischen Kreises soll sich nun Elio Di Rupo versuchen, der Vorsitzende der frankophonen Sozialisten, die im Süden des Landes traditionell die stärkste Partei sind. Mitte Mai erhielt er von König Albert II. den Auftrag, aus dem Nichts eine Regierung zu formen.

Di Rupo bekannte sich sogleich zum Kompromiss - genau wie das seine zahlreichen Vorgänger taten, die im Lauf des letzten Jahres als Vermittler auftraten. Allesamt scheiterten sie. Mit Di Rupo schließt sich ein Kreis: Bereits unmittelbar nach den Wahlen hatte er diese Funktion inne. Vielleicht nannte er seine Mission deshalb die "letzte Chance“.

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