Europas verdrängte Schande

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Roma und Sinti verkörpern in romantischer Verklärung den europäischen Traum der Freiheit. Was die EU-Staaten aus ihnen und ihrem Ideal gemacht hat, zeigt sich in den Slums von Rom bis Bukarest. Ein Bericht über das System einer Volks-Entrechtung.

Kaum ein Text vermag in seiner nachdenklichen Stille das Geschiedensein des Volkes der Roma von Europa so vollends darzulegen wie „Die Hundeesser von Svinia“ von Karl Markus Gauss: „Abends im Hotel, als ich die Hefte und Notizblöcke, die Aufzeichnungen, Karten, Bücher ordnete und mein Zeug zusammenpackte, fand ich in der Windjacke, die ich tagsüber getragen hatte, die rostige Schnalle eines Gürtels, eine blaue Haarklammer aus Plastik, ein Knäuel Papier und ein abgebrochenes Stück Schulkreide. Wenn einer fortging, war es bei den Hundeessern von Svinia üblich, daß sie ihm etwas in sein Gepäck schmuggelten, nicht so sehr als Geschenk oder zur Erinnerung, sondern damit etwas von ihnen in die Welt gelange, von der sie nichts wussten, und sie mit der Welt verbinde, die alles daran setzte, sie von sich fernzuhalten.“

Diese gebrochene Welt der Ausgeschlossenen wird seit Jahren auch von Beamten der Europäischen Institutionen mitverwaltet. Einmal pro Jahr erscheint in Brüssel ein mit lächelnden Roma-Kindern oder glücklichen Roma-Familien bebilderter Report über deren Ausgrenzung in Ost- und Südeuropa. 2009 ergab diese Studie: Jeder zweite Roma fühlt sich nach der EU-Studie benachteiligt, jeder vierte war Opfer einer Gewalttat, jeder fünfte Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs.

Feindliche Staaten

Angriffe einer radikalen politischen Minderheit auf eine ethnische Minderheit in sonst funktionierenden Rechtsstaaten? Zumindest das mangelnde Vertrauen der Opfer gegenüber den Behörden setzt die Staatsorgane ins Zwielicht: Zwischen 65 und 100 Prozent der Betroffenen in den Ländern Rumänien, Bulgarien, Tschechien, der Slowakei, Serbien und Griechenland wagen es nicht, die Tat bei den Polizeibehörden anzuzeigen. Dagegen häufen sich laut Amnesty International Berichte über Übergriffe der Behörden gegen Roma. Die Liste der diskriminierenden Länder ließe sich fortsetzen – in jüngster Zeit auch mit den Namen von Staaten, die sich als Blüten der europäischen Kultur verstehen: Italien und Frankreich.

Während hohe diplomatische Vertreter beider Staaten vor wenigen Tagen in Auschwitz der Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gedachten, befanden sich in beiden Staaten Programme in Kraft, Siedlungen der „Gens du Voyage“ oder der „Tsigani“ schleifen zu lassen. Schon nach den ersten Zwangsräumungen in Paris und Bordeaux liefen selbst Politiker der UMP-Partei des regierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen die Zwangsräumungen Sturm. Man fühle sich „an die Zusammentreibungen der Nazis im Zweiten Weltkrieg erinnert“, meinte der UMP-Mandatar Jean Pierre Grand. Italien geht noch weniger zimperlich mit den etwa 145.000 im Land befindlichen Roma um. Ungehindert von der italienischen Polizei konnte ein wütener Mob 2008 in Neapel illegale Siedlungen in Brand stecken. Heuer schritt die Regierung schließlich selbst zur Tat und ließ ein Lager in Rom niederwalzen. Amnesty International protestierte vergeblich: „Tausende Roma werden von einem Lager ins nächste vertrieben. Sie werden als Minderheit verachtet, als Bürger entrechtet und zum Nomadendasein gezwungen.“

Dass es noch schlimmer geht, beweisen andere EU-Staaten. In Rumänien etwa werden Roma zwangsweise auf dem Gelände von Müllhalden oder Kläranlagen angesiedelt. In Ungarn übernimmt die rechtsradikale Jobbik-Partei die Hetze gegen die Roma. Die Ermordung von sechs Roma führte heuer zu offenen Straßenschlachten zwischen Jobbik-Kommandos und Roma-Jugendlichen.

Dass die Situation vor allem der Roma in Osteuropa ausweglos bleibt, dafür sorgt vor allem systematische Arbeitslosigkeit: 75 Prozent ist der Durchschnittswert. Der Londoner Economist fasste das in seiner auf ökonomischen Nutzen bedachten Kühle zusammen: „Es ist eine Schande für Europa wie hier elf Millionen Menschen systematisch von ihrer Arbeitsleistung abgehalten werden.“ Dafür verantwortlich ist auch mangelnde Bildung: So landen 27 Prozent der Roma-Kinder in der Slowakei in Sonderschulen für geistig Behinderte, über 60 Prozent haben keinen Pflichtschulabschluss. Dazu kommt eine versagende Gesundheitsversorgung. Während das Durchschnittsalter in westlichen Gesellschaft über 70 Jahre beträgt, sind es in den Romasiedlungen in Rumänien oder der Slowakei gerade einmal 18 Jahre.

Auf der Straße

Die Folge: Wo der Staat entscheidende Rechte verweigert, schreiben mafiose Strukturen das Gesetz. Diesen gehorchen dann auch die Roma-Bettlerkohorten in den reichen Städten Mitteleuropas. Dort verwechseln satte Politiker diese Sklaverei allerdings gerne mit freiwilliger Arbeitsscheue.

Etwa die Bezirksvorsteherin der Wiener Innenstadt, Ursula Stenzl zitiert: „Ich sehe es nicht als humane Perspektive an, wenn Menschen, die zuhause ihre Chance bekommen, auf der Kärntner Straße herumhumpeln. Eine Frau, die hübsch und jung ist, muss doch nicht vor der Malteserkirche knien und betteln. Oder meinen Sie, das muss sein?“ Vielleicht nicht. Aber wer schützt die Bettlerin, hübsch und jung – oder den Bettler, hässlich humpelnd, wenn sie ihre Rechte einfordern? Drei Institutionen jedenfalls tun das seit 1989 nicht: Polizei, Justiz, Politik - flächendeckend, europaweit..

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