Europavision im Schatten Stalins

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Das Europa, das Österreichs östliche Nachbarn im Kalten Krieg erhofften. Ergebnisse einer bisher unveröffentlichten furche-Umfrage aus dem Jahr 1951.

Vor tausend Jahren waren die Staaten, die nach dem 1. Mai wieder als unsere Bruderländer zu gelten haben werden, europäische Großmächte. Böhmen, Polen, Litauen und Ungarn waren funktionierende christliche Königreiche schon zu einer Zeit, zu der die heute tonangebenden EU-Kernländer - Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien - nur in Marginalien in ihrer heutigen Staatsform auf der Landkarte verzeichnet waren.

Die Hitler-Herrschaft in Ost-Zentraleuropa oder die fast 50-jährige Sowjetokkupation hat die Europagefühle der Völker in diesem Raum nicht abkühlen lassen. Aber diese konnten in den Jahren nach 1945 nur von jenen Politikern deklariert werden, die außerhalb des aufgezwungenen Moskauer Machtbereiches als Exilanten im Westen lebten und da den Versuch unternahmen, sich als Künder der echten Wünsche ihrer Völker Gehör zu verschaffen.

Blutige Ausbruchsversuche

Allerdings gelang das nicht immer, weil sie im Kalten Krieg von jenen westlichen Kräften, die ihre eigene politische Machtposition zu erweitern trachteten, nicht selten schändlich missbraucht wurden. Die verzweifelten und in Blut ertränkten Ausbruchsversuche - Ostberlin 1953, Budapest 1956 und Prag 1968 - nährten bei den Völkern Ost-Zentraleuropas das Gefühl, vom Westen allein gelassen zu werden und bei den nachwachsenden Generationen das Bedürfnis, sich mit den gegebenen - wenn auch verhassten - Realitäten abzufinden.

Doch nicht nur heimatlos gewordene Exilpolitiker, auch - allen Realitäten zum Trotz - junge Idealisten im einstigen Zentrum Ost-Zentraleuropas gaben nicht die Hoffnung auf, dereinst nicht durch einen mörderischen "Eisernen Vorhang" von den Brudervölkern getrennt zu leben, sondern mit ihnen gemeinsam ein von fremden Einflüssen und Ideologien freies Europa aufbauen zu können. Zu diesen gehörten auch junge Mitarbeiter dieser Zeitung, die sich vorgenommen hatten, einige in ihrer Heimat zum Schweigen Verurteilte nach ihrer Meinung über das gemeinsame künftige Schicksal zu befragen.

An 14 einst führende Staatsmänner (Ex-Regierungschefs, Minister, Parlamentarier und führende Vertreter demokratischer Parteien der Vor- und Nachkriegszeit aus Böhmen, der Slowakei, Polen und Ungarn) richtete die Redaktion der Furche 1951 sechs Fragen (siehe Kasten), um herauszufinden, wie die Exilpolitiker einen positiven Beitrag für eine kommende Neuordnung im Donauraum leisten wollen. Auf Grundlage der Antworten sollte "im Rahmen einer Enquête die europäische Öffentlichkeit mit den Zielsetzungen der Exilpolitiker bekannt gemacht werden".

Die Mehrzahl der Antworten aber waren für die damalige Zeit - Stalin lebte noch und ließ noch morden - politisch hoch brisant, sodass die Redaktion auch aufgrund des Ratschlags von Freunden im Außenamt schweren Herzens darauf verzichtete, das Ergebnis der geplanten Enquete zu veröffentlichen. So ruhten die Äußerungen der seither längst Verstorbenen im Archiv des Initiators, der nach 53 Jahren durch Zufall wieder auf sie stieß. Er glaubt, jetzt sei die richtige Zeit, um zu beweisen, dass in den Nachfolgestaaten der Donau-Monarchie überaus fähige Europäer gelebt hatten, die sicher eine bedeutende Rolle beim Aufbau einer neuen Ordnung auf unserem Kontinent hätten spielen können, umso mehr, als einige der Gesprächspartner schon 1951 die Schaffung einer - sogar ausdrücklich so bezeichneten - "Europäischen Union" erträumten.

Ruf nach freien Wahlen

Die heute durchgeführte Analyse der Antworten ergibt ein uneinheitliches Bild. Wohl waren die meisten Exilpolitiker der Meinung, dass es zum Sturz des Sowjetimperiums kommen werde. Völlig unterschiedlich waren die Auffassungen aber über das Nachher. Ungarn, Tschechen und Slowaken aus unterschiedlichen politischen Lagern waren sich einig, dass ihr Volk nach einer Befreiung durch freie Wahlen über das eigene Schicksal entscheiden solle.

Von den befragten fünf tschechischen und drei slowakischen Exilpolitikern konnten sich die meisten - auch wenn sie Gegner der in die Katastrophe führenden sowjetfreundlichen BeneÇs-Politik waren - nicht völlig von der Ideologie des "Habsburg-Kannibalismus" lösen. Als konsequenter Befürworter der Vertreibung der Sudetendeutschen entpuppte sich just jener Sozialdemokrat, den die Prager Kommunisten mit der Unterwanderung der West-Emigration beauftragt hatten, nach seiner "reuigen Heimkehr" aber fallen ließen.

Die demokratischen Vertreter der deutschsprachigen Heimatvertriebenen - Lodgman von Auen und Wenzel Jaksch - bejahten eine Politik des Zusammenlebens der Völker des böhmischen Raumes in Form einer Föderation. Auf tschechischer Seite trat der Ex-General Lev Prchala für eine solche Lösung ein. Er hatte übrigens mit den Heimatvertriebenen im Jahr davor ein Abkommen über einen modus vivendi nach Schlichtung der Gegenätze geschlossen.

Als einziger von allen Befragten erwies sich der ehemalige Außenminister des slowakischen Hitler-Vasallen-Staates, Ferdinand Durcansky, als radikaler Gegner einer geplanten föderalistischen Lösung im Donauraum: Er forderte die Wiederherstellung dieses "selbstständigen" Staates. Auch die beiden anderen Slowaken waren - vermutlich aus Angst vor der "magyarischen Gefahr" - gegen eine Donauföderation: Der eine forderte die Verwirklichung einer den Slowaken 1918 versprochenen Autonomie im Rahmen einer Tschecho-Slowakei, der andere sprach sich für die Wiedergeburt der alten demokratischen CSR der Masaryk-Zeit aus.

Die Haltung der Ungarn - der einstige Chef der oppositionellen Sozialdemokratie, ein jüdischer Liberaler, ein katholischer Monsignore der oppositionellen Partei der "Kleinlandwirte" und ein Legitimist, alle gewählte Mitglieder der Vorkriegs-Nationalversammlung - war einheitlicher: Alle sprachen sich für eine föderale Lösung aus.

Donauraum-Föderation

Nur der Ministerpräsident in den Jahren 1942 bis zur Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im März 1944 hatte eine andere Meinung. Miklós von Kállav war auch der einzige der Befragten, der sich völlig aus der Politik zurückgezogen und in Italien eine Existenz als Landwirt aufgebaut hatte. Ihm war es beinahe gelungen, die Geschichte Ost-Mitteleuropas neu zu gestalten: Durch die nach ihm benannten "Schaukelpolitik" hatte er versucht, Hilfe von den westlichen Alliierten zu erhalten, um sich so aus der Zwangsjacke des Bündnisses mit Hitler zu lösen.

Im Rahmen der Furche-Enquete sagte Kállav auch die "Rebellion der unterdrückten Völker als Schritt zu ihrer Befreiung" voraus. Andere seiner Prophezeiungen waren allerdings von Grund auf falsch. So meinte er 1951, dass "nach der Befreiung vom Sowjetjoch die Entfaltung der unter der Führung des Mittelstandes stehenden Demokratie westlichen Musters überhaupt nicht in Frage" kommen würde. Es nahm vielmehr an, dass "ein sozialistisches Regime mit einer gewissen Sicherung der Menschenrechte noch diskutabel wäre".

Völlig im Gegensatz zu dieser Sichtweise des Vorkriegspolitikers sei zum Abschluss jene des einzigen Befragten zitiert, der noch die Öffnung 1989 erlebt hat und hochbetagt in seiner Heimat eine verdiente Ehrung erfuhr. Der letzte Parlamentspräsident des demokratischen Ungarn wurde von den Volksvertretern zum Abgeordneten und Ehrenvorsitzenden auf Lebzeiten dieses Gremiums berufen. Béla Varga hatte zu Kriegsbeginn als Pfarrer in Balatonboglár für jene polnischen Jugendlichen, die sich in das damals noch nicht mit Hitler verbündete Ungarn durchgeschlagen hatten, eine Mittel- und Hochschule aufgebaut und so den Weiterbestand der polnischen Intelligenz gesichert.

Heimat aller Europäer

In der vor 53 Jahren verfassten Antwort im Rahmen der geplanten Furche-Enquete hatte Varga festgestellt: "Die Zukunft Europas hängt größtenteils davon ab, inwieweit es uns gelingt, unseren Kontinent zu einer gemeinsamen Heimat aller Europäer umzugestalten. Ich bin ein glühender Anhänger der Idee einer Europäischen Union. Diese soll die Heimat aller Völker und Nationen des Kontinents werden und sich zum Gedanken der Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung bekennen. Dabei fällt dem Donauraum eine große Aufgabe zu!"

Nach 53 schweren Jahren erfüllen sich am 1. Mai seine Hoffnungen.

Den Donauraum neu ordnen - aber wie?

Was die furche 1951 von den Exilpolitikern

Ost-Mitteleuropas wissen wollte:

* Halten Sie eine neue staatliche Ordnung

für die Völker des Donauraumes für notwendig?

* Erscheint Ihnen allenfalls ein loser Zusammenschluss

der nationalen Kleinstaaten des Donauraumes

als die richtige Lösung oder würden Sie eine

Konföderation autonomer Kleinstaaten vorziehen:

eine Konföderation also, welche den staatsrechtlichen

Charakter eines Staatenbundes hätte?

* Manche Freunde einer Neugestaltung

des Donauraumes neigen zu einer Befürwortung

eines Bundesstaates, also zu einer festeren

Zusammenfügung der einzelnen autonomen

Staaten zu einer staatsrechtlichen Einheit,

wobei immer die Betonung auf der autonomen

Stellung der einzelnen Glieder des Bundesstaates

liegen würde.

Stimmen Sie einer derartigen Lösung zu?

* Welche Grenzen in nationaler und

staatlicher Beziehung würden Sie der

gewollten Neuordnung setzen?

* Welche gesamteuropäischen Interessen

sehen Sie mit der angestrebten Neuordnung

des Donauraumes verbunden?

* Halten Sie als oberste Spitze der künftigen

staatsrechtlichen Form eine republikanische

oder dynastische Lösung für die geeignetere?

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