Experimente für höheren ARBEITSWILLEN

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Finnland wird 2017 mit Experimenten zu einem bedingungslosen Grundeinkommen beginnen. Das Sozialsystem wird dadurch aber eher härter.

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Finnland wird 2017 mit Experimenten zu einem bedingungslosen Grundeinkommen beginnen. Das Sozialsystem wird dadurch aber eher härter.

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Professor Olli Kangas hält einen Bleistift in der Hand und rechnet. Ein Beispiel soll veranschaulichen, wie das fixe Einkommen einer Bezieherin von Sozialhilfe von heute im Jahr 2020 aussehen könnte: "560 Euro plus 350 Rechne ich richtig? Nein, nein, das ist falsch."

Kangas ist müde. Viel Zeit hat er als Leiter des Experiments "Bedingungsloses Grundeinkommen" mit ähnlichen Rechenaufgaben schon verbracht. Jetzt koordiniert er die Arbeit eines Fachteams der staatlichen Sozialversicherungsanstalt Kela mit der Regierung. Kela ist in letzter Zeit eine Art finnisches Labor für Sozialpolitik geworden, in dem 70 Forscher um die Zukunft wetteifern. "Das Experiment ist verbunden mit den Perspektiven des Arbeitsmarktes", erklärt der Professor. "Wenn wir glauben, dass in der Zukunft jeder eine gut bezahlte Vollzeitbeschäftigung haben wird, dann brauchen wir kein bedingungsloses Grundeinkommen".

Unaufhaltsamer Strukturwandel

Aber wenn die Digitalisierung die Arbeitsmuster so verändere, dass Menschen überflüssig, arbeitslos oder zunehmend schlecht bezahlt werden, mit vielen kurzfristigen Verträgen, wenn die berufliche Unsicherheit groß würde -in dem Fall wäre das bedingungslose Grundeinkommen die Lösung, meint er. "Vielleicht", fügt er noch hinzu.

Finnland leidet nicht nur unter den Spätfolgen der Wirtschaftskrise. Im nordischen Land findet ein großer Strukturwandel statt. Die traditionelle Papierindustrie hält der Digitalisierung nicht stand. Voriges Jahr musste auch die finnische IT-Ikone Nokia die Handy-Sparte an Microsoft verkaufen. Einst stand Nokia für vier Prozent der finnischen Wirtschaftsleistung und für jeden hundertsten Arbeitsplatz. Hohe Arbeitslosigkeit und Verschuldung sorgen nun für Angst, wie es weitergehen soll. Die Sozialausgaben von über 30 Prozent des BIPs zählen zu den höchsten in Europa.

Deshalb findet auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens grundsätzlich Unterstützung quer durch das ganze politische Spektrum Finnlands. Neu ist sie nicht. Seit den 70-ern macht sie immer wieder die Runde, drei mikro-simulierte Versuche gab es bereits unter Federführung der Grünen und der Linken Partei. Auch 69 Prozent der Bürger sind dafür. Der Teufel sitzt aber im Detail. Die Variante Grundeinkommen für alle würde die Steuern in die Höhe treiben. Wie genau das Modell des Pilotprojekts aussehen wird, entscheidet die Regierung deshalb erst im November.

Professor Kangas blättert in der vorläufigen Studie, die die Arbeitsgruppe der Kela der Regierung vorlegte. Er findet den Passus mit den vier Vorschlägen und klopft mit dem Zeigefinger auf den dritten, mit dem partiellen Grundeinkommen in Höhe von 560 Euro. Nicht viel ist das für ein Land mit hohen Lebenshaltungskosten. Deshalb nennt es der Forscher "Taschengeld".

Diese Variante, so hofft man in der Regierung, wäre so etwas wie ein Anreiz für einen Zuverdienst. Schlecht bezahlte Arbeit könnte auf einmal attraktiv werden und Langzeitarbeitslose wieder auf Trab bringen.

Die Vorlage des Sozialministeriums sieht einen zweijährigen Versuch vor, der im Januar 2017 anlaufen und 2000 Arbeitslosengeld-Empfänger im Alter zwischen 26 und 58 umfassen soll. Das Taschengeld würde überwiesen werden. "So wären die ganzen Strapazen mit der Bürokratie beendet", sagt der Autor des Pilotprojekts.

Hilfe in der Not

Marija Ikonen könnte eine solche Hilfe gut gebrauchen. Aber sie misstraut der Regierung. Sie lebt mit der staatlichen Unterstützung samt Bürokratie ganz gut. Denn für sie ist Bürokratie Sozialkontakt. Sie sitzt mit ihrer Betreuerin im Sozialamt ihres Bezirks Myllypuro in Helsinki, einem abgewohnten Plattenbau, und man merkt - das tut ihr gut.

Beide Frauen haben Gebäck und Kaffee auf dem kleinen Tisch vor sich. Und - sie haben Zeit. Wegen eines Unfalls musste Frau Ikonen ihren Job als Sekretärin in einem Spital aufgeben. Eine Versicherung half als Überbrückung, seither lebt sie von einer Krankenpension.

Ein Fehler im Sozialsystem führte jedoch dazu, dass sie ein Jahr lang Unterstützungen parallel aus zwei Töpfen erhielt. Die fatalen Folgen - Streichung der Sozialhilfe, Mahnungen, Schulden, Exekutoren, die ständig an die Tür klopften: "Damals musste ich mit 150-200 Euro auskommen, sogar die Stromrechnung musste ich in zwei Teilen bezahlen. Ich konnte mir nichts leisten."

Jetzt ist es leichter. Für den Strom und die Haushaltsversicherung bekommt Ikonen staatliche Unterstützung: "Mir bleiben sogar 300 Euro übrig, und ich kann mir damit Lebensmittel kaufen."

Mit der finanziellen Sicherheit denkt Ikonen sogar an Weiterbildung und einen Wiedereinstieg ins Berufsleben. Das hat sie Teija Tanska zu verdanken. Die Sozialarbeiterin geht zwei Mal in der Woche zu der von der Kirche organisierten Tafel für Bedürftige in Myllypuro. Dort schaut sie sich nach Menschen wie Marija Ikonen um, die sich im Labyrinth des finnischen Sozialsystems verlaufen -und aufgegeben haben.

"Im gegenwärtigen Sozialsystem gibt es in der Tat Probleme", findet Tanska. "200 Sozialarbeiter betreuen die Hauptstadt Helsinki mit ihren 600.000 Einwohnern, kritisiert sie. Nicht der Mensch mit seiner Not stünde im Mittelpunkt, sondern die Fahndung nach Sozialbetrügern." Finnland brauche das alte Wohlfahrtssystem mit genug Personal, auch wenn es auf Kosten von höheren Steuern gehe, meint sie.

Die Regierung sieht das anders. 1000 Sozialarbeiter wie Teija Tanska müssen 2017 ihren Arbeitstisch räumen. Das Herz des Sozialsystems wird ab dem nächsten Jahr Kela. Sie sei in Punkto Grundeinkommen viel weiter als die Sozialämter, mehr zukunftsorientiert also, argumentiert der Leiter des Pilotprojekts Olli Kangas und bietet stolz eine Führung durch die vom Architekten Alvar Aalto entworfenen Räumlichkeiten seiner Sozialversicherungsanstalt an.

Das unumstrittene Projekt

Aus der Perspektive der größten Gewerkschaftsvereinigung Finnlands, SAK, wäre diese Entwicklung nicht gut. Der Ökonom IIkka Kaukoranta wirft der konservativen Regierung vor, durch großangekündigte Sozialexperimente nur einen massiven Sparkurs verdecken zu wollen. Dieses Modell würde weder spezifische Sozialprobleme lösen, noch die Wirtschaft angekurbeln, meint er. Das bestehende System sozialen Managements mit Korrekturen findet er besser.

Doch auch der Gewerkschafts-Ökonom Kaukoranta ist überzeugt, dass Finnland gezwungen sein wird, einen großen Wandel durchzumachen. Um zu überleben, müssen auch die Gewerkschaften flexibel sein und einiges Unangenehme schlucken. In einer nationalen Rahmenvereinbarung hat SAK bereits den Wegfall der Lohnnebenkosten und Schritte zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes abgesegnet. SAK einigte sich jüngst mit der Regierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern darauf, dass die Löhne in diesem und dem kommenden Jahr nicht steigen sollen.

Ähnlich wie im Industrialisierungszeitalter stellt sich auch heute bei der Automatisierung und Digitalisierung der Konflikt Mensch gegen Maschine von neuem in seiner ganzen Komplexität. Eine neue Welle von Arbeitsrationalisierung steht an. Es geht in Finnland nicht mehr darum, für oder gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu sein. Die Menschen sind von seiner Notwendigkeit überzeugt. Die Frage ist nur mehr jene nach dem richtigen Weg.

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