Fallen der negativen superlative

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Die Katastrophe im Südsudan zeigt Fehler in unserem Umgang mit Nahrungskrisen auf: Die Reaktion erfolgt halbherzig und viel zu spät.

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Die Katastrophe im Südsudan zeigt Fehler in unserem Umgang mit Nahrungskrisen auf: Die Reaktion erfolgt halbherzig und viel zu spät.

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Geschichten wie diese brauchen eine Präambel: Wir haben viel erreicht. Seit 2000 hatten sich die Vereinten Nationen in den Millennium-Zielen unter anderen der Ausrottung von Armut und Hunger verschrieben und dabei anscheinend große Erfolge erzielt. Die Zahl der manifest Armen war drastisch gesunken. Die Zahl der Hungernden war im letzten Jahrzehnt von 960 auf 800 Millionen gefallen. Ban Ki Moon, damals der Generalsekretär der UN, wagte 2012 einen neuen noch ehrgeizigeren Vorstoß: ZHI - die Zero Hunger Initiative. Mehr Technologie und Bildung für Bauern, 100-Prozent-Zugang zu angemessener Nahrung. Und: Innerhalb von zwei Jahren sollte kein Kind mehr an Wachstumsstörungen durch Unterernährung leiden. Wir hätten damit also mehr erreicht als je eine Generation vor uns. Aber was geschieht jenseits der statistischen Wünsche?

Die Stadt Leer/Provinz Unity, Südsudan, Februar 2017. Die Geschichte der Dinka wird aus Geschichten gespeist: Alle acht Jahre feiern die Dinka ein großes Fest zu Ehren des Gottes Nhalic. Nhalic ist sehr mächtig. Er kann sogar den größten Feind vertreiben, solange ihn die Menschen ehren und ihm ein Opfer bringen. Einen Stier alle acht Jahre. Die Dinka kommen dann zusammen und sie singen und tanzen: "Wir sind schwach, wir sind nicht satt, lass es uns gutgehen. Sag dem Übel, dass es vor uns hergehen soll. Und lass das Gute kommen. Wir sind schwach, alleine. Wir sind verlassen." So sangen sie Generation um Generation vor dem Bullen, der Nhalic gnädig stimmte. Sie rieben das Tier mit Opferölen ein, bevor es geschlachtet wurde und über seinem Grab errichteten sie ein heiliges Gebäude aus Holz, einen Luak, den alle miteinander rivalisierenden Gruppen gemeinsam erbauen mussten. So war es lange Sitte in dem Gebiet zwischen Rombek und Leer im Südsudan. Der Brauch überstand die Zeit der Sklavenjäger und die Kolonisierung durch die Briten und vielfach sogar die Missionierung. Er überstand blutige Rivalitäten und Kriege untereinander, er brachte Frieden.

Der leere Opferstock

Heute haben die meisten Dinka zwischen Leer und Rombek nichts mehr zu essen und auch keinen Bullen, den sie Nhalic opfern könnten. Viele von ihnen sind aus ihren Dörfern geflohen oder sie wurden vertrieben. Von den Rebellen vom Volk der Nuer, aber auch von eigenen rivalisierenden Dinka-Gruppen. Der Opferpflock, an den der Bulle gebunden und der wie das Tier mit wertvollem Öl eingerieben wurde, bleibt leer und unbestrichen. Denn es gibt auch kein Öl mehr. Die rivalisierenden Völker im Südsudan haben kein gemeinsames Gebäude, an dem sie bauen. Sie brennen statt dessen ihre Häuser nieder und morden und vertreiben die Menschen und rauben das Vieh und vergewaltigen ihre Frauen und Kinder.

Der nächste Ort der Ruhe für die Notleidenden ist ein Flüchtlingslager, das die Vereinten Nationen in Leer unterhalten. Es ist hoffnungslos überbelegt. Denn draußen warten die Verbrecher und der Hunger. Und immer kommen neue Flüchtlinge.

Wenn man es also vom Standpunkt der Dinka aus betrachtet, so ist der Südsudan eine gottlose Hölle geworden. Seit Dezember 2013 tobt ein Bürgerkrieg, in dem es einige tausend tote Soldaten gibt, aber noch viel mehr Opfer, etwa 50.000 laut UN unter der Zivilbevölkerung. So ist auch der größte Feind der Dinka eingezogen. Der Hunger. Fünf Millionen Menschen sind von Hunger bedroht, davon 450.000 Kinder.

Der Südsudan zeigt die dramatische Lage Afrikas, die Hilflosigkeit der internationalen Organisationen. Denn der Hunger ist kein Problem, das vor einer Woche aufgebrochen ist und im Südsudan unvorhersehbar und unvermeidbar gewesen wäre. Schon 2015 und 2016 gab es Hungertote unter den Vertriebenen. Das Problem scheinen die internationalen Alarmsysteme zu sein. In der Vorwoche wurde heftige Kritik an der UN laut, dass die Hungerhilfe in Form von internationalen Beiträgen erst dann zu laufen beginnt, wenn schon hunderte Menschen gestorben sind.

Tatsächlich ist die internationale Hilfe in den vergangenen Jahren zunehmend von einer Form der Statistik abhängig geworden, die nicht realen Zuständen, sondern Schätzungen und extrapolierten Opferzahlen gehorcht.

So hat sich die globale Mildtätigkeit mathematisiert. Und sie muss sich auf Basis von negativen Superlativen Gehör verschaffen. Allein im Südsudan gibt es 3,4 Millionen Flüchtlinge, über eine Million Kinder leiden an Mangelernährung, so der Leiter des UNICEF-Hilfswerk im Südsudan. 100.000 Menschen, nach anderen Darstellungen 40.000 Menschen seien vom Hungertod bedroht, weitere Millionen stünden "dicht vor der Hungersnot". Doch die Situation war 2015 nur unwesentlich anders und auch 2016 nicht. Auch damals berichteten Helfer in einer ARTE-Dokumentation schon über "680.000 akut unterernährte Kinder". In Wahrheit war die Welt über Monate taub, von benötigten 1,3 Milliarden (2015) für die Hungerhilfe wurden gerade einmal 65 Millionen aufgebracht.

Statistische Unmöglichkeiten

Chris Hillbruner, vom Famine Early Warning Systems Network: "Man darf mit Hilfe nicht warten, bis offiziell eine Hungersnot erklärt wird. Denn wenn erst reagiert wird, nachdem Hunger bereits manifest ist und Menschen sterben, dann wurde zu lange gewartet." Das gleiche Szenario ist im Jemen zu beobachten, auch dort herrscht seit Jahren ein international geduldeter Bürgerkrieg, der von Saudi Arabien noch mächtig angeheizt wird. Die zivilen Opfer jedoch sind dort ebenso zu einer statistischen Berechnung geworden, bevor sie die Aufmerksamkeit der Welt erreichten. 450.000 Kinder und 13 Millionen Menschen sind dort akut von Hunger betroffen, nach anderen Darstellungen sind es gar 19 Millionen oder sieben Millionen.

Probleme der Einstufung

Der Norden Nigerias, jahrelang unter der Kontrolle der islamistischen Boko Haram, wurde vergangene Woche zum Notstandsgebiet erklärt. Noch im vergangenen Jahr hatte das Welternährungsprogramm der UNO Nigeria als ein Gebiet mit nur geringer Unterernährung eingestuft.

Ein Teil des Problems ist aber nicht nur die Tendenz, erst mit Superlativen des Horrors die Aufmerksamkeit der Welt erregen zu können. Es ist auch die Verlässlichkeit der Zahlen an sich, die hinterfragt werden muss. Wie sich schon aus den aktuellen Beispielen zeigt, ist die Bandbreite der Fürchterlichkeit da je nach Organisation sehr verschieden.

Das führt zu einem weiteren wichtigen Feld, nämlich der überbetonten Wichtigkeit und der Belastbarkeit des Datenmaterials. Denn seit Jahren stoßen die Helfer auf Gebiete etwa im Südsudan, die unter einer so klassifizierten Hungersnot leiden, der höchsten Stufe der UN-Klassifizierung von Ernährungssicherheit. Wenn aber ein Gebiet wegen Kampfhandlungen nicht zugänglich ist, dann können auch keine weiteren Daten erhoben werden und der Notfall wird nicht ausgerufen.

Noch dazu sind die UN auch von nationalen Behörden abhängig, um zu Daten zu gelangen. Doch, wie im Falle Südsudans, werden Notstände aus politischen Motiven oft geleugnet, oder als "Übertreibung"(der Sprecher des Präsidenten Slava Kiir, Ateny Wek) zurückgewiesen.

Postskriptum: Der Hunger und der Krieg finden auf Feldern des Reichtums statt. Denn unter den gebrandschatzten Dörfern und Flüchtlingslagern liegen 350.000 Barrel Erdöl. Das macht die Dinka und die Nuer zu den reichsten Völkern -und die Statistik endet in einem grausamen Zynismus.

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