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„Es ist etwas passiert, und es tut mir unendlich leid." Die österreichische Rechtslage verhindert derzeit sogar dieses ärztliche Eingeständnis im Falle eines „Kunstfehlers".

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„Es ist etwas passiert, und es tut mir unendlich leid." Die österreichische Rechtslage verhindert derzeit sogar dieses ärztliche Eingeständnis im Falle eines „Kunstfehlers".

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Einem Mann werden im AKH irrtümlich die Hoden entfernt. Manche orten dies als Zeichen eines maroden, unmenschlichen, längst reformbedürftigen Spitalssystems. Sicherlich ist vieles verbesserbar und gerade auch Betriebe, wie das AKH, sind menschlicher zu gestalten. Aber: in medizinischen Betrieben jede menschliche oder technische Fehlerquelle auszuschalten, das ist ein unmögliches Unterfangen. Beinahe ebenso unmöglich, wie aufgrund der derzeitigen österreichischen Rechtslage tatsächlich Recht und zumindest angemessenen Schadenersatz zu erhalten:

Nach internationalen Forschungserkenntnissen (Harvard medical prac-tice study, Boston 1990) passieren bei einem Prozent aller Spitalsbehandlungen Fehler, die auf ein Verschulden zurückzuführen sind. Auf Österreich übertragen wären das zumindest 20.000 geschädigte Patienten. In aller Welt scheitern die meisten Klagen von Patienten an den Erfordernissen des Verschuldensprinzips im Schadensersatzrecht. Mangelnde Sorgfalt nachzuweisen oder zu beweisen, daß es sich nicht um einen schicksalhaften Verlauf gehandelt hat, gelingt dem Patienten als Kläger kaum.

So wies der OGH (Oberste Gerichtshof) die Klage einer Patientin ab, die Jahre nach einer Operation Beschwerden bekam. Ein Plastikring wurde im Bauchraum vergessen. Für den juristischen Laien ein klarer Fall. Die Frau muß eine Entschädigung erhalten. Nicht so für den OGH und die beklagte Krankenanstalt. Der Plastikring könnte ja, so die Argumentation, irgendwie anders in ihren Bauch gekommen sein. Zynischer Höhepunkt der Argumentation wäre: Vielleicht wurde sie sogar mit dem Plastikring im Bauch geboren?

Im Lauf von weiteren drei Prozent aller Behandlungen passieren sozusagen „vom Verschulden unabhängige" Fehler. Man kann nicht mehr genau sagen wer, wann, wo etwas falsch gemacht hat, aber der Patient ist geschädigt. Das betrifft etwa 60.000 Menschen in Österreich. Womit die Gesamtzahl der Geschädigten auf 80.000 jährlich geschätzt werden kann. Die Spannweite reicht vom unbemerkten Bagatellfall bis zur menschlichen Tragödie, Erblindung, Tod des Patienten.

Die Rufe nach einer Verschärfung der ärztlichen Haftung - Gefährdungshaftung oder nach einer generellen Umkehr der Reweislast - dann müßte immer der Arzt nachweisen, daß er keinen Fehler gemacht hat -klingen verlockend. Damit wurde man im System ganz eindeutig die Patienten besserstellen. Die Ärzte und, was noch schlimmer ist, Vertrauen blieben mit aber auf der Strecke.

Wie weit die Entwicklung gehen kann zeigt das Beispiel USA. Unter dem Namen „medical malpractice crisis" treibt diese Entwicklung Blüten, wie etwa in den abgebildeten Inseraten (siehe Bild oben): Rechtsanwälte bieten in Telefonbüchern 24-Stunden-Dienste an, oder warten gar vor den Krankenhäusern, um Patienten für mögliche Schäden vor Gericht vertreten zu können. Defensivmedizin war die Antwort der amerikanischen Ärzte darauf. Sie behandeln Patienten nicht mehr oder überdiagnostizieren und überbehandeln, um den Nachweis von Fehlern auszuschließen. Dies verteuert das gesamte System und belastet die Patienten. Ein Extremfall spielte sich in Florida ab. Im ganzen Bundesstaat fand sich kein Gynäkologe mehr, der sich noch getraute, eine normale Geburt durchzuführen. Florida hat eine Verschuldensunabhängige Entschädigung für die Geburtshilfe eingeführt, damit überhaupt noch Gynäkologen im Land arbeiten. Angst vor einem Prozeß ist keine Arbeitsmotivation. Diese Erkenntnis bewegte auch einige europäische Länder, einen anderen Weg zu gehen.

Der Rechtswissenschafter Universitätsprofessor Johannes W. Pichler, Direktor des österreichischen Institutes für Rechtspolitik in Salzburg, hat erstmals für den deutschsprachigen Raum alle gängigen Pati-entenschadens-Regulierungsmodeile wissenschaftlich untersucht. Er empfahl erst kürzlich als Experte der europäischen Kran-kenhauskommissi -on eine Verschuldensunabhängige Kompensation nach dem Vorbild der skandinavischen Länder. In Schweden, Finnland, Norwegen oder Dänemark gebührt Patienten eine Entschädigung, die objektiv einen Schaden erlitten haben; das kann ein Diagnose-, Rehandlungs- oder Infektionsschaden, aber auch ein System- oder Entwicklungsschaden s.ein. Die Patienten in diesen Ländern müssen nicht mehr die problematischen „Wer hat wann, was falsch gemacht"-Verschuldensbeweise führen. Dafür werden eigene Sachverständigengremien geschaffen, die feststellen, ob ein Schaden zugefügt wurde und in welchem Ausmaß, aber ohne zu fragen, durch wen. Jegliche Kooperation mit Disziplinarbehörden oder Gerichten wird strikt ausgeschlossen. Ärzte und Anstalten können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, bei der Schadensermittlung offen und kooperativ mitwirken.

Geholfen wird effizient und innerhalb weniger Wochen, auch Schmerzensgeld wird bezahlt. Die Beträge liegen aber weit unter den astronomischen Summen der amerikanischen Gerichtspraxis. Dies zeigt, daß die Patienten nicht „reich werden", sondern „ihr Recht bekommen" möchten, ist Pichler überzeugt.

Daß es an materieller Gerechtigkeit mangelt, ist offenkundig: während beispielsweise in Österreich eine Hundertschaft von Patienten Schadenersatz erhält, sind es, stellt man die Frage nach dem Verschulden nicht mehr, in Schweden mit etwa gleich vielen Einwohnern etwa 2.600 (ü) im Jahr. In Dänemark, das nur halb so viele Einwohner wie Österreich zählt, schätzt man gar an die 2.000 berechtigten Schadenersatzforderungen pro Jahr.

Auch in Österreich kursieren seit der I Iodenamputation wieder Vorschläge für Entschädigungsmodelle - von der Patienten-Haftpflichtversicherung bis zum Medikamentenschilling.

„Die Haftpflicht verschärft den Konflikt und es ist nicht einzusehen, die Patienten selbst über einen Zuschlag zum Medikament zur Kasse zu bitten", so Pichler aus seiner Erfahrung. In den Modelländern werden die Kosten über Versicherungs-Prämien von den Krankenhäusern getragen, „denn dort passiert auch das meiste". Logisch: in den Krankenhäusern werden ja auch die schädigungsanfälligsten Behandlungen in der Chirurgie, Orthopädie und in der Geburtshilfe vorgenommen. Die Gesamtbilanz der skandinavischen Modelle, ist, so Pichler, eindeutig positiv, beurteilt man diese Kosten auch unter dem Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit. Eine schlampigere Arbeit der Ärzte ist nicht festzustellen. Im Fall grober Fahrlässigkeit bleibt weiter die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Außerdem kann der Zivilrechtsweg in einem Schadenersatzprozeß noch immer beschritten werden, betont Pichler.

Die Ärzte leiden mindestens ebenso wie die Patienten unter dem derzeitigen System in ganz Europa, meint Pichler. Sie dürfen einfach nicht fehlbar sein und somit auch keine Fehler eingestehen. Es lastet ein enormer psychischer Druck auf dem Mediziner, der nie das Ventil des aufklärenden Gespräches, der Entschuldigung erhält. Die derzeitige Rechtslage und die Haftpflichtversicherung der Anstalten verhindern das Eingeständnis: „Ja, es ist etwas passiert und es tut mir unendlich leid." Die Medizin würde durch eine no-fault-Patientenversi-cherung, die zugleich als no-blame-in-surance bezeichnet wird, auch endlich vom Druck zur Unfehlbarkeit entlastet, betont Professor Pichler.

Die Autorin ist

Medienreferentin des Instituts für Rechtspolitik am Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften, Salzburg

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