"Fluch den Ungläubigen!" auf den Lippen

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Am 6./7. September 1955 fand das "Pogrom von Istanbul" statt, bei dem ein gelenkter Mob christliche Geschäfte, Wohnungen und Viertel verwüstete und deren Bewohner drangsalierte. Von den damals 200.000 Christen Istanbuls emigrierten 130.000.

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Am 6./7. September 1955 fand das "Pogrom von Istanbul" statt, bei dem ein gelenkter Mob christliche Geschäfte, Wohnungen und Viertel verwüstete und deren Bewohner drangsalierte. Von den damals 200.000 Christen Istanbuls emigrierten 130.000.

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Immer, wenn es Herbst wird, kann die 65-jährige Koulitsa Xyda in Istanbul kaum noch schlafen. Diesmal ist es besonders schlimm. Denn in der Nacht vom 6. auf den 7. September sind es 60 Jahre her, seit die griechisch-orthodoxe Christin als Fünfjährige das Christenpogrom in der Türkei miterleben musste.

Koulitsa ist schon eingeschlafen, als ihre Mutter Despoina sie aus dem Bettchen reißt: "Schnell, schnell, es geht uns ans Leben!" Von der Pera-Straße dringt wüster Lärm, wilde Schläge dröhnen gegen das Haustor. Im Treppenhaus wartet der türkische Offizier vom oberen Stock auf Koulitsa und ihre Mutter; auch er noch im Pyjama: "Herauf mit euch, bevor es zu spät ist!" Kaum haben die beiden in seiner Wohnung Zuflucht gefunden, bricht im Erdgeschoss die Hölle los: Schläge, Schmerzensschreie, klirrendes Glas und brechendes Geschirr, ein letztes Stöhnen. Dann wird es still. "Gott steh der armenischen Familie unten bei!", flüstert Koulitsas Mutter, weiß im Gesicht.

Nur wenige halfen

Der Oberst hat sich inzwischen in Uniform geworfen. Gerade noch rechtzeitig, denn Faustschläge hämmern gegen die Tür: "Gebt uns die Christenbrut heraus!", wird er aufgefordert. Mit gezogener Pistole stellt sich der Offizier dem Mob entgegen. So bewahrt er Mutter und Tochter vor Misshandlung, Entehrung oder gar dem Tod.

Es gab nicht viele so anständige Türken in dieser Schreckensnacht. Sie kostete mindestens 15 Christen, unter ihnen zwei Priester, das Leben. 35 Schwerverletzte, 75 niedergebrannte oder zerstörte Kirchen sowie Gesamtschäden in Geschäften und Wohnungen in Höhe von heute mindestens 200 Millionen Euro gehören zur weiteren Schreckensbilanz der gewaltsamen Ausschreitungen gegen Christen.

Die Zahl der "Pogromgewinnler", die sich zuerst direkt an den Ausschreitungen beteiligten und danach die eingeschüchterten Opfer hinterlistig um Hab und Gut brachten, war groß. Wenn wir nur von den Geschäften ausgehen, die damals von christlichen auf muslimische Eigentümer übergingen, lag die Zahl über 4000. Wie das gedreht wurde, steht in dem Konstantinopler Krimi "Die Kinderfrau" von Petros Markaris zu lesen:

Lefteris Meletopoulos hatte eine Stoffhandlung. In der Krawallnacht hat man ihn ruiniert, sie haben seinen Laden zu Kleinholz gemacht und sein ganzes Warenlager geplündert [...] Dieser Erdemoglu, von dem Sie eben sprachen, hatte nebenan ein Damenmodengeschäft [...] Meletopoulos wusste damals weder ein noch aus... Da kam Erdemoglu auf ihn zu und bot an, es ihm abzukaufen. Zwar nicht einmal zur Hälfte des Wertes, aber Meletopoulos schätzte seine Lage so hoffnungslos ein, dass er einwilligte [...] Erst später, zu spät, sah er Aufnahmen von der Kristallnacht, auf denen Erdemoglu zu sehen war, wie er sich an der Zerstörung von Meletopoulos' Laden beteiligte."

Schon im Vorfeld der 500-Jahrfeiern des Falls von Konstantinopel an die Türken gab es geheime Regierungspläne, den 29. Mai 1953 in einem von Griechisch-Orthodoxen "reinen" Istanbul zu feiern. Das Septemberpogrom 1955 wird dann gern mit dem Beginn der Zypernkrise in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich hat es sich um eine frühe Manifestation des aggressiven Polit-Islam gehandelt.

"Manifestationen des Volkszorns"

Damals hatte der türkische Regierungschef Adnan Menderes die Islamisierung eingeleitet. Die angeblich spontanen Ausschreitungen waren von Regierung, Geheimdienst, türkischen Nationalisten und politislamischen Kreisen seit langem vorbereitet. Die "Manifestanten des Volkszorns" wurden aus entfernten Landkreisen mit Bahn und Bus, Schiffen und sogar Taxis herbeigekarrt. Sie erhielten genaue Einsatzpläne mit den Geschäften und Wohnungen ihrer Opfer. Viele davon waren mit Kreuzen gekennzeichnet.

Fahrzeuge der Stadtverwaltung voll Äxten, Steinen, Meißeln, Prügeln, Hämmern, Eisenstangen und vollen Benzinkanistern fuhren an strategischen Punkten der Stadt auf. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit standen Einsatzgruppen von je 20 bis 30 Mann bereit, an ihrer Spitze polizeibekannte Gewalttäter, um an ihr Werk zu gehen.

"Fluch den Ungläubigen!" In der historischen Pera-Straße erklang als erstes der furchteinflößende Schlachtruf. Der Mob stürzte sich wie toll auf den verhassten Feind.

"Fluch den Ungläubigen!" Wie wilde Tiere rissen sie die eisernen Rollläden und Gitter vor den Läden der Christen aus den Verankerungen, zersplitterten die Schaufenster, plünderten, was sie nur fanden, weideten die alten griechischen Geschäfte im Stadtteil Pera regelrecht aus. In wenigen Stunden war die renommierte Geschäftsstraße in einen unpassierbaren Sumpf von Glas, Pelzen, Käse, Kühlschränken, Schokolade, Handtaschen und Stofffetzen verwandelt. Eine formlose Masse von zerrissenen, zerschlagenen, zertretenen Gütern bedeckte Fahrbahn und Gehsteige. Die Polizei, später auch das Militär griffen erst ein, als das Pogrom zu einem Aufstand gegen alle Besitzenden ausartete.

In der Schreckensnacht wurden Christen zwangsbeschnitten, viele dabei völlig entmannt. Christlichen Frauen säbelten Fanatiker die Brüste ab. Von den 32 Schwerverletzten gehörten fünf Männer und 14 Frauen zu diesen grausam Verstümmelten. Vergewaltigte Frauen wurden nicht als Verletzte gezählt. Nach kirchlichen Angaben zu hunderten -aber sie sprachen nie davon, verschlossen sich in ihre Scham ob des Erlittenen.

Auf den orthodoxen Friedhöfen, wurden die Gräber geschändet, sogar jene der Ökumenischen Patriarchen, Leichen mit Messern zerstückelt und verbrannt, Gerippe Bein für Bein zerstreut.

Emigration und Rückkehr

Von den noch über 200.000 griechischen und armenischen Christen in Istanbul - es war bis zum Ersten Weltkrieg eine mehrheitlich christliche Stadt - verließen um die 130.000 die Türkei in den dem Pogrom folgenden Jahren, die Familie Xyda 1964.

Vor drei Jahren ist Koulitsa Xyda nach Istanbul zurückgekehrt. Obwohl sie noch immer Angst hat. Aber: "Wir müssen die christliche Minderheit stärken, die sonst auszusterben droht. Es kann jeden Tag ein neues 1955 geben. Aber jede, jeder mehr in den fast leer gewordenen Kirchen zählt jetzt einfach." Frau Xyda steht mit diesem Einsatz nicht allein. Gerade aus der griechisch-orthodoxen Diaspora in Mitteleuropa mehren sich die Rückwanderer. Zwei von ihnen sind schon als Spätberufene am Bosporus Priester geworden.

"Die Konstantinopler von heute sind wenige, werden aber wieder mehr", pflegt Patriarch Bartholomaios I. zu sagen. Sie sind entschlossen, die vielhundertjährige griechisch-orthodoxe Tradition der Vaterstadt fortzusetzen. Tapfer bewahren sie das religiöse und kulturelle Erbe ihrer Vorfahren.

Und warten seit 60 Jahren auf ein Schuldbekenntnis und die Bitte um Vergebung.

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