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Föderalismus im Reduit

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Es war in Gesprächen über die europäische Einigung eine Zeitlang last zur Mode geworden, vom „Modellfall Schweiz“ zu reden. Damit war wohl gemeint, daß die föderalistische Lösung, welche die Eidgenossen gefunden haben, um das harmonische Zusammenleben von vier Völkern in einem Staat zu gewährleisten, für den europäischen Zusammenschluß als Muster dienen könne. Die Schweizer sind mit der föderalistischen Formel „Soviel Freiheit der Teile wie möglich und soviel Bindung ans Ganze als nötig“ gut gefahren. Doch wäre man im Irrtum, schlösse man, von diesem helvetischen Leitbild lassen sich direkt Rezepte für ein föderalistisches Europa ableiten. Zumindest wäre es nicht richtig, in der schweizerischen Form des Föderalismus das Muster für die Gestaltung der Regionalautonomie rassischer Minderheiten zu erblicken. Der schweizerischen Minderheitenpolitik liegt nämlich neben dem Föderalismus, der sich hier nur indirekt auswirkt, ein anderes Prinzip zugrunde, das nirgends formuliert ist, aber in der Praxis hochgehalten wird. Nämlich der Grundsatz, daß die Mehrheit der Minderheit immer mehr zugestehen soll als das, worauf sie rechtlich oder zahlenmäßig Anspruch hat.

Der schweizerische Föderalismus ist nicht regional, sondern kantonal konzipiert. Nicht die Landesteile verkörpern ihn, sondern die 25 Kantone. Es gibt sogar einzelne Kantone, deren Territorium die regionalen Grenzen sprengt. Der größte Schweizer Kanton, Graubünden, umfaßt deutschsprachige, rätoromanische und italienischsprachige Gemeinden. Mitten durch die Kantone Bern, Wallis und Freiburg verläuft die Sprach- und Kulturgrenze zwischen alemannischer und französischer Schweiz. Die „Rassenprobleme“ in der Schweiz sind denn auch weit öfter innerkantonale als gesamtschweizerische Fragen.

Der Föderalismus ist in der Eidgenossenschaft seit dem zweiten Weltkrieg in Bedrängnis. Stück um Stück ihrer Souveränität haben die Kantone an die Zentralgewalt abtreten müssen, namentlich in der Sozial-, Wirtschaftsund Steuerpolitik. In den günstigsten Fällen ist es ihnen gelungen, sich mit Bern in die Macht zu teilen. Diese Entwicklung, die von der Linken gefördert wird, hat über weite Strecken zwingende sachliche Gründe. Es ist, um ein Beispiel zu nennen, ganz einfach unmöglich, ein nationales Autobahnnetz unter Berufung auf die Straßenhoheit der Kantone ohne zentrale Planung und Oberleitung zu errichten. In diesen und anderen Fällen muß Bern die Leitung haben. Diesem Zwang der Tatsachen zollen die Schweizer Föderalisten ihren Tribut. Darüber hinaus aber haben in letzter Zeit die „goldenen Ketten“, das heißt die Subventionen, welche die Zentralgewalt den Kantonen zur Erfüllung bestimmter Aufgaben zuwendet, das Ihre dazu beigetragen, den Selbstbehauptungswillen der föderalistischen Front zu schwächen. Dazu kommt, daß sich nach Auffassung sozialistischer und christlich-sozialer Kreise die angeblich oder wirklich reaktionären Gruppen in den letzten Jahrzehnten allzuoft föderalistischer Vorwände bedient haben, um sozial fortschrittliche Lösungen zu torpedieren; das habe den Wert und die Glaubwürdigkeit des Föderalismus in breiten Kreisen des arbeitenden Volkes geschmälert. Abgesehen davon, sei es in dieser Zeit der großräumigen Lösungen, des technischen Fortschritts, der Binnenwanderung und der Technisierung auch sachlich fragwürdig, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik föderalistische Lösungen anzustreben.

Eine wirkliche Chance habe der Föderalismus, abgesehen von Ausnahmen, fast nur noch auf kulturpolitischem Gebiet. Hier allerdings ist er, mindestens grundsätzlich-theo. etisch, über alle Lager hinweg auch heute noch als lebendige Kraft und eidgenössische Notwendigkeit anerkannt. Namentlich in den Fragen der Schule und der Erziehung haben die Kantone bisher ihre Stellung zu behaupten vermocht, und die Bundesbehörden vermeiden es, in diesen Belangen Initiativen zu ergreifen, die ihnen als Anschlag auf die Kantonshoheit ausgelegt werden könnten. Dabei geht es direkt darum, die kantonale Souveränität zu wahren, indirekt aber mehr noch darum, die kulturelle Eigenständigkeit der französischen und italienischen Minderheit zu respektieren. Die Welschen haben eine feine Witterung für alle wirklichen oder vermeintlichen Bedrohungen ihrer Lebensart, was von den Deutschschweizern keineswegs mit scheelen Blicken konstatiert wird, sondern mit Wohlwollen.

Anderseits übersteigen aber manche kulturpolitischen Aufgaben, welche unsere Zeit stellt, mehr und mehr die Leistungsfähigkeit der Kantone. So sehen sich die Eidgenossen vor die Notwendigkeit gestellt, das föderalistische Konzept ihrer Kulturpolitik neu zu überdenken und den Zeiterfordernissen anzupassen. Die Sicherstellung eines ausreichenden technischen und akademischen Nachwuchses, der die Kräfte der Universitätskantone übersteigende Ausbau der Hochschulen, die dringliche Ausweitung der Stipendien und sonstigen Studienbeihilfen, aber auch die Aufgaben des Natur-, Landschafts- und Gewässerschutzes und der Denkmalpflege übersteigen in territorialer wie finanzieller Hinsicht die Kantonsgrenzen. Die Frage ist gestellt, wie Methoden gefunden werden können, die sachlich zum Ziel führen und trotzdem die kantonale Hoheit nicht vollends aushöhlen. Der Wille zu einer solchen Synthese besteht bei der großen Mehrheit der Politiker. Die Richtlinie, an die sie sich dabei halten, finden sie im Subsidiaritätsprinzip: Soviel kantonale Verfügungsgewalt als möglich — soviel Bundesintervention als nötig.

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