Folteropfer hinter Glas

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Argentiniens Präsident Néstor Kirchner macht Schluss mit dem Schweigen über die Junta-Verbrechen. Die ESMA, ein ehemaliges Folterzentrum in Buenos Aires, wird zum Museum.

Wir wollen weder ein Museum des Horrors noch der Erinnerung auf dem Gelände der ehemaligen Marineschule (ESMA). Wir sind auch nicht bereit, das Gelände mit den Militärs zu teilen." Hebe de Bonafini, Präsidentin der "Madres de Plaza de Mayo", jener Opferinitiative, die sich nach dem Platz vor der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, nennt, erinnert mehr an einen Feldwebel als an eine Menschenrechtlerin. Mit der einfachen Hausfrau, die am 30. April 1977 mit einer Gruppe von Müttern das erste Mal auf die Plaza de Mayo zog, um Auskunft über ihre verschwundenen Kinder zu verlangen, hat die resolute 70-Jährige nicht mehr viel gemeinsam. Hebe de Bonafini führt aus einer extrem linken Position einen politischen Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit, völlig losgelöst von den Einzelschicksalen der Verschwundenen.

Uneinige "Madres"

Nach offiziellen Angaben sind während der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 über 10.000 Menschen ermordet worden. 21 Jahre nach dem Ende der Diktatur hat sich die Situation völlig gewandelt. Die Mütter haben sich in zwei Lager gespalten. Hebe de Bonafini vertritt die radikale Position, welche sie auch am 24. März 2004 klar formuliert. An diesem Tag ist der 28. Jahrestag des Militärputsches. Und zum ersten Mal gedenkt ein argentinischer Präsident der Gräueltaten der Junta. Die Präsidentin der Mütter drohte: "Wenn die Gouverneure zum offiziellen Akt in die ESMA gehen, gehen wir als Mütter nicht hin!"

Auf dem 17 Hektar großen Gelände der ehemaligen Mechanikerschule der Marine (ESMA) am Stadtrand von Buenos Aires befand sich das größte Folterzentrum Argentiniens. Hier wurden verschleppte Regimegegner von Ärzten betäubt, in Flugzeuge gebracht und anschließend weit von der Küste entfernt in den Atlantik geworfen. Die ESMA soll nun zu einer Gedenkstätte umgewidmet und in einem der Gebäude ein Museum eingerichtet werden. Menschenrechtler zeigen sich zufrieden mit der Entscheidung. Es sei ein wichtiger Schritt hin zur Wiederaufarbeitung des Geschehenen. So auch die Mutter Taty Almeida. Vom ersten Moment an spürt man die Wärme, die von ihr ausgeht. "In Anbetracht dessen, dass uns weniger Zeit zum Leben bleibt, als wir schon gelebt haben, ist dieses Ereignis sehr wichtig für uns. Wir sind geschockt vor Freude und Rührung! Wir bekommen die ESMA - ein Symbol der Perversion." Die dunklen Augen der pensionierten Lehrerin strahlen, wenn sie von ihrem Sohn Alejandro, der 1976 verschwunden ist, erzählt. Auch nach all den Jahren des Kampfes für Wahrheit und Gerechtigkeit ist kein Gefühl von Hass zu spüren.

Geld heilt keine Wunden

Die Gruppe um Taty Almeida hat sich 1986 abgespalten und nennt sich "Las Madres de Placa de Mayo - Linea Fundadora" und ist gemäßigter in ihrer Einstellung. Während Bonafini jegliche Wiedergutmachungszahlungen des Staates an Familienangehörige mit der Begründung ablehnt, Folter und Tod könnten nicht mit Geld gutgemacht werden, akzeptiert die Linea Fundadora solche Wiedergutmachungszahlungen. "Schließlich liegt es im Ermessen jedes einzelnen, die Gelder anzunehmen oder nicht", erklärt Almeida ihre Position.

Zwanzig Jahre lang verurteilte der Sicherheitsrat der UN regelmäßig Menschenrechtsverletzungen in Chile, Südafrika und den von Israel besetzten Palästinensergebieten. Der argentinische Terror ging fast unbehelligt von der Weltöffentlichkeit vonstatten - auch wenn Organisationen wie amnesty international diesen immer wieder anklagten.

Fußball als Propaganda

Die Junta schützte sich durch die Pflege bester Beziehungen zur Sowjetunion und zu anderen Ostblockländern. 1978 veranstaltete Argentinien die Fußballweltmeisterschaft, um Frieden und Ruhe im Land zu demonstrieren. Ein Propagandacoup ohnegleichen! Schon bald nach Ende der Militärherrschaft 1984 legte sich ein erdrückendes Schweigen über das Land. Im ersten Jahr der wiedererstandenen Demokratie hatte eine Wahrheitskommission das Ausmaß der Verbrechen zu ergründen versucht. Im darauf folgenden Jahr wurden neun Generäle zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Damit war Argentinien das erste Land Südamerikas, dass seine ehemaligen Diktatoren vor Gericht stellte und verurteilte. Sie kamen jedoch schon 1989 wieder frei - dank einer von dem rechtsperonistischen Präsidenten Carlos Menem verkündeten Amnestie. Bereits 1986 und 1987 hatte der Kongress das Schweigen mit Gesetzen institutionalisiert. Sie setzten einen Schlusspunkt, "punto final", indem sie für die Militärs den so genannten Befehlsnotstand, "obediencia debida", als Entschuldigung für ihre Verbrechen anerkannten. Täter, die der Alterungsprozess nicht aus dem Verkehr gezogen hat, nehmen heute aktiv am öffentlichen Leben teil.

Eine Zeit lang ist das Erbe der Militärdiktatur thematisch etwas in den Hintergrund gerückt, denn Argentinien erlebte 2002 den größten Staatsbankrott der Geschichte. Néstor Kirchner, die Verlegenheitslösung, um nicht dem korrupten Partei-"Freund" Carlos Menem neuerlich die Macht zu überlassen, hat erreicht, dass sich Argentinien wieder im Aufbruch befindet. Die Wirtschaft wächst derzeit um etwa elf Prozent. Jedoch kann das Land nach wie vor nur die Hälfte seiner Schulden von 147 Milliarden Dollar bezahlen. "Mehr zu zahlen würde einen erneuten Völkermord an den Argentiniern bedeuten", erklärte Kirchner, der die Konzepte des Internationalen Währungsfonds für die Verarmung des Staates am Rio de la Plata mit verantwortlich macht.

Spurlos verschwunden

Néstor Kirchner ist nun seit gut einem Jahr im Präsidentenamt und hat der Korruption und Straflosigkeit gegenüber den Militärschergen den Kampf angesagt. Er entließ korrupte Richter des Obersten Gerichtshofes und tauschte die Führungsriegen von Militär und Bundespolizei aus. Er hat die Vergangenheit zum großen Thema gemacht. De facto sucht Kirchner nach den Jahren des Schweigens die Konfrontation mit der Vergangenheit. Bereits im vergangenen Jahr hat er ein Dekret widerrufen, das garantierte, dass argentinische Staatsbürger wegen Verbrechen, die sie während der Militärherrschaft an Ausländern begannen hatten, nicht ausgeliefert werden dürfen. Zahlreiche Europäer verschwanden in den Jahren der Diktatur spurlos. Beschuldigte haben jedoch das Recht, sich für ein Verfahren in ihrem Heimatland zu entscheiden - für viele die günstigere Option, denn in Argentinien gibt es für über 70-Jährige keine Gefängnisstrafen, nur Hausarrest.

Im März dieses Jahres erklärte der Bundesrichter Rodolfo Canicoba Corral die Begnadigung sechs verurteilter Junta-Mitglieder für verfassungswidrig. Der frühere Präsident Carlos Menem hat 1989 und 1990 insgesamt 300 Begnadigungen für Militärs und einige linke Rebellen ausgesprochen. Drei der sechs Ex-Generäle, denen der Richter die Befehle für Folter und Mord politischer Gefangener vorwirft, sind bereits gestorben. Suárez Mason, gegen den ein deutscher Auslieferungsantrag vorliegt, und Juan Bautista Sasiain befinden sich wegen anderer Verfahren in Untersuchungshaft. Ob die Entscheidung Bestand haben wird, ist zweifelhaft.

Schmerzhafte Wahrheit

Andererseits hat Argentinien 1994 eine internationale Konvention ratifiziert, die jedes Land zur zeitlich nicht begrenzten Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verpflichtet. Doch rechtfertigt der Zweck die dubiosen Mittel? Sicherlich in den Augen derer, die seit bald 30 Jahren um eine Aufarbeitung der Vergangenheit kämpfen. Vor allem in den Augen der "Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo", die Woche für Woche unbeirrt demonstrieren und ihre Mahnwachen abhalten. "Solange wir leben, werden wir den Mund nicht halten." So die 83-jährige deutschstämmige Ellen Marx, deren Tochter 1976 verschwunden ist.

Die Beendigung der Straflosigkeit ist ein wichtiger Beitrag zur Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch diesen oft schwierigen und schmerzhaften Prozess der Wahrheitsfindung muss Argentinien selbst gehen.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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