Für Allah, die Nation und DEN PRÄSIDENTEN

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Kommt nach der Niederschlagung des Militärputsches erst recht die Diktatur in der Türkei? Eine Analyse über die Tage der Verwirrung und der Rache im Reich von Tayyip Erdogan.

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Kommt nach der Niederschlagung des Militärputsches erst recht die Diktatur in der Türkei? Eine Analyse über die Tage der Verwirrung und der Rache im Reich von Tayyip Erdogan.

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Manchmal hat es den Anschein einer beinahe arithmetischen Beziehung: Je mehr seiner Anhänger sich um ihn versammeln, desto weiter entfernt sich Recep Tayyip Erdogan von Europa und seinen Werten. Auch in diesen Tagen nach dem gescheiterten Putsch, dem "Gottesgeschenk" (Erdogan). Das Volk will die Todesstrafe für Putschisten? Nun, wenn das Volk dies wünsche und das Parlament zustimme, sei auch er dazu bereit, sagte Erdogan am frühen Dienstagmorgen vor tausenden Anhängern vor seiner Istanbuler Residenz. Bei einem späteren nächtlichen Auftritt vor Anhängern wiederholte er, die Türkei sei "ein demokratischer Staat, der durch Rechtsstaatlichkeit" geführt werde. Die "Wünsche des Volkes darf man nicht abtun", sagte er. "Gibt es heute nicht in Amerika die Todesstrafe? In Russland? In China? In anderen Ländern der Welt? Nur in den EU-Ländern gibt es keine Todesstrafe." Soweit zu Europa, soweit zur EU, soweit zur Zukunft der Türkei in der EU.

Der Präsident tut, was er in den vergangenen Monaten so oft tat. Er spaltet, statt zu beruhigen. Dabei ist die Lage immer noch unübersichtlich -geprägt von Spekulationen, Lügen und Verschwörungstheorien. Sicher ist, dass am Freitagabend Teile des Militärs versucht haben, die Macht in der Türkei zu übernehmen. Tausende Soldaten waren in der Hauptstadt Ankara und in Istanbul ausgeschwärmt und hatten strategische Punkte, wie etwa Flughäfen, TV-Sender und die Bosporusbrücken, unter ihre Kontrolle gebracht. Sie hatten das Kriegsrecht ausgerufen und verkündet, "die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheiten" im Land sollten gewährleistet und wiederhergestellt werden.

Widerstand mit Allah

Trotz der Ausgangssperre und gewaltsamer Ausschreitungen im ganzen Land rief der Staatspräsident seine Anhänger dazu auf, auf die Straßen zu gehen und ihn zu verteidigen. Es wurde eine SMS an alle Türken verschickt, in der er die "verehrten Kinder des türkischen Volkes" dazu aufrief, sich den Putschisten entgegenzustellen. Die Menschen folgten ihm - nicht zu Millionen, wie regierungsnahe Medien behaupteten, aber zu Tausenden. Viele schrien "Allahu akbar - Gott ist groß". Um halb zwei in der Nacht erklang von den Minaretten ein spezieller Gebetsruf: "Geht für Allah auf die Straße."

Bei den folgenden Gefechten wurden nach offiziellen Angaben 265 Menschen getötet. Und nach seinen eigenen Angaben beinahe auch Erdogan selbst. Umstürzler hätten in der Nacht zum vergangenen Samstag die Ferienanlage in Marmaris gestürmt, in der er seinen Urlaub verbracht habe, sagte er in einem Interview des US-Senders CNN. Dabei hätten die Angreifer zwei seiner Leibwächter getötet. "Wäre ich zehn, 15 Minuten länger geblieben, wäre ich getötet oder gefangen genommen worden", sagte er.

Der schnelle Schuldspruch

Schon nach wenigen Stunden erklärte die Regierung den Coup für gescheitert und präsentierte einen Schuldigen: Die Anhänger des sunnitisch-islamischen Predigers Fethullah Gülen, der Erdogans einflussreichster Widersacher im türkischen konservativen Lager ist.

Der 75-Jährige lebt seit fast 20 Jahren zurückgezogen in den USA, er hat Millionen Anhänger auf der ganzen Welt und gilt in der Türkei als "Staatsfeind Nummer eins". Dabei waren Erdogan und Gülen einst enge Weggefährten im Kampf gegen den politischen Einfluss des Militärs. Doch ihre Allianz zerbrach und schlug 2013 in erbitterte Feindschaft um. Hintergrund waren Korruptionsvorwürfe gegen das enge Umfeld von Erdogan, gegen Minister und auch Erdogans Sohn Bilal, die den damaligen Ministerpräsidenten immens in Bedrängnis brachten.

Der Regierungschef warf Gülen schon damals vor, er wolle seine Regierung stürzen. Erdogan ließ hunderte Armeeoffiziere, sogar Generäle, aus ihren Positionen entfernen. Tausende Polizisten wurden entlassen, die alle zu der Gülen-Bewegung gehören sollen. Dass Erdogan nun Gülen für den Putschversuch von Teilen des Militärs verantwortlich machte, wies der Prediger "kategorisch" zurück. In einem seiner seltenen Interviews hielt er es sogar für möglich, dass Erdogan den Putsch selbst inszeniert habe. Bei einer Rede am Samstagabend vor tausenden Anhängern in Istanbul verlangte der Staatschef von Washington die Auslieferung seines im US-Exil lebenden Erzfeindes - doch bisher blieben alle Auslieferungsersuche erfolglos.

Der verdächtige Westen

Noch bevor Gülen sich zu Wort meldete, kursierten bei Erdogan-Kritikern in der Türkei, aber auch im Westen Verschwörungstheorien, der Aufstand sei eine Inszenierung der Regierung gewesen. Denn, so wird argumentieren, Erdogan habe jetzt noch mehr Gründe, um gegen seine Gegner vorzugehen. Der Putschversuch dürfte Erdogan als Argument für sein wichtigstes und umstrittenstes Ziel dienen: Die Einführung eines Präsidialsystems, das nach seinen Worten für mehr Stabilität in der Türkei sorgen soll. Die Begründung dafür hatte Erdogan selbst geliefert: "Dieser Putsch gibt uns die Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern." Die blutige Niederschlagung lobte er als eine "Heldentat der Demokratie". Ministerpräsident Binali Yıldırım sagte über die Angreifer: "Das sind keine Soldaten, das sind gefräßige, terroristische Schlächter in Uniform" und drohte: Wer sich gegen den Willen des Volkes stelle, werde an die "Putschisten erinnert, deren Leben ausgelöscht wurden".

Vorwürfe aus Brüssel

Die EU-Kommission wirft Ankara nach dem gescheiterten Putschversuch Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor. Man habe sofort nach den Ereignissen die Erwartung geäußert, dass die Aufarbeitung nach internationalem Recht erfolge, sagte der für die EU-Beitrittskandidaten zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn. "Nach dem, was wir sehen, ist das nicht wirklich der Fall."

Hahn zeigte sich speziell über die Festnahme von Richtern beunruhigt. "Das ist genau das, was wir befürchtet haben", sagte er. Zudem äußerte der EU-Kommissar in ungewöhnlich direkter Formulierung die Vermutung, dass die türkische Regierung ein Vorgehen gegen Gegner bereits länger geplant hatte. "Dass Listen direkt nach den Vorkommnissen vorhanden waren, deutet darauf hin, dass sie vorbereitet waren und zu einem bestimmten Moment genutzt werden sollten."

Der Plan der Putschisten, Erdogan zu schwächen, ist grandios gescheitert. Tatsächlich steht er nun stärker da als je zuvor. Nicht nur, dass tausende Bürger ihn auf den Straßen verteidigt haben, für Erdogan bietet sich jetzt die Gelegenheit, die letzten Kritiker aus dem Weg zu räumen.

Und so sieht es derzeit auch aus. Allein das türkische Innenministerium soll 9000 Angestellte entlassen haben, darunter 30 Gouverneure. Medienberichten zufolge wurden auch Polizisten und Militärpolizisten sowie Mitarbeiter der Küstenwache ihres Amtes enthoben. Sie alle werden verdächtigt, Verbindungen zu Gülen zu haben. Europa sei gewarnt: Denn was passiert, wenn sich die Verfolgung der Bewegung nicht nur auf die Türkei beschränkt, sondern auch innerhalb der türkischen Minderheiten in den Städten Europas zu Konflikten führt?

Was wird generell aus den Bürgerrechten und dem Recht auf Meinungsäußerung in der Türkei, wenn der Präsident ein "Krebsgeschwür im Staat" ortet? Die chirurgische Operation der Regierung dürfte umfassender werden, als diese Grundwerte das erlauben. Und grundsätzlich scheinen sie immer dort entbehrlich, wo der Zweck die Mittel heiligt, so wie in diesen Tagen in der Türkei Erdo gan.

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