Für den Ernstfall in Afghanistan gerüstet

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Clemens Vlasich, Präsident von "Ärzte ohne Grenzen" Österreich, über logistische Perfektion, "vergessene Kriege" und das Elend der Afghanen

die furche: Die Hilfe Ihrer Kollegen von "Ärzte ohne Grenzen" wurde in den USA nicht benötigt. Beim Erdbeben in der Türkei waren Sie dagegen vor Ort. Welche logistischen Maßnahmen sind in solchen Katastrophenfällen nötig?

Clemens Vlasich: Wir haben mehrere Logistiklager, wo das notwendige Material zum Teil schon verzollt liegt. So kann es innerhalb kürzester Zeit am Katastrophenort eintreffen. Es gibt mehrere solcher Lager: in Brüssel, in Bordeaux und eines in Holland. Wir haben aber auch dezentralere in Mittelamerika, in Costa Rica.

die furche: Was liegt dort bereit?

Vlasich: Es sind fertig abgepackte große Kisten. Bei einem Erdbeben braucht man etwa Zelte, Decken und viele Infusionen für Verletzte. Wir haben aber auch Pakete für Flüchtlingssituationen, zum Beispiel ein so genanntes "standard kit" für 10.000 Personen und drei Monate. Zunächst muss man also einschätzen, wie viele Menschen betroffen sind. Dann kann man sehr schnell reagieren. Bei Erdbeben oder Überschwemmungen muss man den Leuten Zelte zur Verfügung stellen, vor allem aber sauberes Wasser, Nahrung und Medikamente.

die furche: Sie haben es bei Ihren Einsätzen nicht nur mit logistischen Problemen, sondern manchmal auch mit lebensgefährlichen Situationen zu tun. Wegen eines drohenden Gegenschlags der USA hat "Ärzte ohne Grenzen" erst dieser Tage seine Mitarbeiter aus Kabul abgezogen ...

Vlasich: Wir waren bisher in allen Regionen tätig. Afghanistan war schon in den letzten Wochen ein heißes Thema, bevor dieser schreckliche Anschlag in den USA passiert ist. Es gibt eine große Dürre. Man befürchtet wirklich eine Hungersnot. Der Bürgerkrieg kommt noch dazu. Auch das Gesundheitssystem funktioniert sehr schlecht. Es gibt Krankheiten, die es heutzutage nicht mehr geben sollte: Man hat etwa die Vitamin-C-Mangelerkrankung Skorbut wieder gefunden. In vielen Gegenden gibt es auch sehr wenig medizinisches Personal. Zum Bürgerkrieg und zur schlimmsten Dürre seit 30 Jahren kommt noch die zunehmend harte Haltung gegenüber afghanischen Flüchtlingen in Pakistan dazu, wo versucht wird, sie so schnell es geht zurückzuschicken. (Anm. d. Red.: Vergangenen Montag hat Pakistan alle Grenzübergänge zu Afghanistan geschlossen. 1,2 Millionen Flüchtlinge durften ihre Lager nicht mehr verlassen.) In letzter Zeit haben wir unsere Aktivitäten in Afghanistan daher verstärkt. Jetzt fürchten wir natürlich, dass es größere Angriffe geben könnte. Deshalb sind alle Büros von "Ärzte ohne Grenzen" dabei, mögliche Mitarbeiter für Notfalleinsätze in Afghanistan zu kontaktieren.

die furche: Sind Österreicher vor Ort?

Vlasich: Wir hatten Mitarbeiter dort, aber jetzt nicht mehr. Es werden zwar internationale Mitarbeiter abgezogen, wenn das Risiko zu groß wird, aber die vorhandenen lokalen Strukturen funktionieren auch ohne uns eine Zeit lang weiter. Auch unsere Mitarbeiter in Pakistan stehen mit den afghanischen Einrichtungen in Kontakt und sorgen dafür, dass Medikamente und Verbandsmaterial hinkommen.

die furche: Die Bilder der Menschenrechtsverletzungen durch das Taliban-Regime gehen um die Welt. Sind Sie auf diesem Gebiet aktiv geworden?

Vlasich: Wir haben uns vor allem im Hinblick auf die schlechten Behandlungsmöglichkeiten für Frauen eingesetzt. Frauen haben keinen Zugang mehr zum Gesundheitssystem und dürfen einfach nicht ins Spital. Als internationale Organisation war es uns sehr wichtig darauf hinzuweisen und so gut es geht zu vermitteln, weil das Anrecht auf Gesundheitsversorgung ja ein Menschenrecht ist. Unser Projekte in Afghanistan sind zu einem großen Teil für Frauen und für Kinder. Die österreichischen Mitarbeiter waren in der Region Badakhshan im Nordwesten, wo sich die Oppositionellen aufhalten. Dort funktioniert die Gesundheitsversorgung noch einigermaßen, dort gibt es auch Ärztinnen, die im Spital tätig sind. Trotzdem kann eine Frau nur von einer Frau behandelt werden. Aber so lange genug Personal da ist, ist das OK.

die furche: Manchen Organisationen wird vorgeworfen, ihre Hilfe auf jene Zeit zu beschränken, in der die Medien von einer Katastrophe berichten.

Vlasich: Uns kann man das nicht vorwerfen. Meist ist es so, dass wir länger dort bleiben als viele andere. Ich merke das gerade bei Situationen, die sehr medienwirksam sind. Sei es jetzt ein großes Erdbeben wie in Indien, die Überschwemmungen von Mocambique oder die Situation im Kosovo, wo massenhaft Hilfsorganisationen und die Armee waren, so lange die Medien geblieben sind. Nach ein paar Wochen ziehen die meisten dann ab. Wir schauen aber sehr wohl, dass die Arbeit mit Einheimischen weitergeführt wird. Wir haben immer Mitarbeiter vor Ort, die viel zahlreicher sind als die internationalen Mitarbeiter. Pro Jahr senden wir rund 2.000 bis 2.500 Mitarbeiter international auf Einsatz, also Ärzte, Krankenpflegepersonal und Logistiker. Aus Österreich sind es rund 60. Dagegen haben wir 10.000 bis 15.000 lokale Mitarbeiter, die unheimlich wichtig sind für die Kontinuität der Projekte in den über 80 Ländern, in denen wir tätig sind.

die furche: Die Katastrophe in den USA, gemeinsam mit der drohenden Kriegsgefahr hat ein enormes Medienecho ausgelöst. Auf der anderen Seite wird von Ihrer Hilfsorganisation vor allem auf die "vergessenen Kriege" hingewiesen ...

Vlasich: Mit Amerika ist etwas ganz Schlimmes passiert, aber wie stark das in den Medien ist, das beeindruckt mich wirklich. Sobald man das Radio aufdreht, wird darüber geredet. Als 1994 in Ruanda eine halbe Million Menschen umgebracht worden sind, hat man kaum darüber gesprochen. Wir versuchen auch, solche vergessenen Konflikte in das Bewusstsein der Leute zu bringen. Das geht am besten dadurch, dass Mitarbeiter nach ihrer Rückkehr berichten. Das haben wir in Österreich sehr stark erlebt: Als wir noch wenige Mitarbeiter hier hatten, war es sehr schwer, über solche Themen zu reden. Jetzt, wo Mitarbeiter aus Österreich vor Ort sind, geht's. Das zu intensivieren ist uns wichtig.

Das Gespräch führte Doris Helmberger

Informationen unter www.aerzte-ohne-grenzen.at

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