„Für uns war 1989 nicht der Null-, sondern der Wendepunkt“

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Dumitru Sandu, Soziologe der Universität Bukarest, über die Veränderungen der rumänischen Gesellschaft durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den Sturz des Regimes von Nicolae Ceau¸sescu: Die Rumänen seien unvorbereitet in die westliche Marktwirtschaft geführt worden, trotzdem herrscht heute überwiegend Zustimmung zur Europäischen Union.

Der Soziologe Dumitru Sandu von der Universität Bukarest ist der Meinung, dass das kommunistische Regime die Tradition von nach dem Zweiten Weltkrieg nur unterbrach, sodass nach 1989 in der Entwicklung hin zum Westen nicht bei null begonnen wurde.

DIE FURCHE: Inwieweit hat der Fall des Eisernen Vorhangs die Sicht Rumäniens auf Europa verändert?

Dumitru Sandu: Nach 1989 hatten die Rumänen hohe Erwartungen und wenig Information darüber, wie man kapitalistische und demokratische Vereinbarungen trifft. Nachdem sie im Kommunismus in einer geschlossenen, totalitären Gesellschaft gelebt hatten, waren sie ziemlich frustriert. Anfang der 1990er Jahre war eine Zeit von großem – uninformiertem – persönlichem Optimismus. Es herrschte die weit verbreitete Ansicht, dass ohne Ceau¸sescu alles einfacher werden würde. Dass dann die Armut speziell in den Jahren 1996–2000 zunahm, war ein ziemlicher Schock. Der Optimismus der Bevölkerung sank drastisch. In dieser Zeit und kurz nach 2000 machten viele Rumänen durch, was ich als dritte Umbruchphase bezeichnen würde: nicht in wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht, sondern viele suchten Arbeit außerhalb Rumäniens. Das war keine von oben verordnete Reform, sondern ein sozialer Umbruch, der von der Basis ausging.

DIE FURCHE: Und wie hat sich in der rumänischen Bevölkerung das Meinungsbild in Bezug auf Europa seit 1989 entwickelt?

Sandu: Die Rumänen hatten große Erwartungen von der EU und welche Rolle sie in Zukunft für sie spielen würde. Der Kommunismus wurde dem Land aufgezwungen, aber westliche Orientierungen und Hoffnungen haben eine lange Tradition in der rumänischen Mentalität. Um das Jahr 2000 herum lagen die Vertrauenswerte der Rumänen in die EU bei über 80 Prozent, jetzt liegen sie bei rund 60 Prozent. Damit liegt Rumänien in den Eurobarometer-Umfragen aber nach wie vor im Spitzenfeld.

DIE FURCHE: War es die einzige Alternative, dass sich Rumänien von Moskau abwandte und Brüssel und Europa zuwandte?

Sandu: Die Modernisierung Rumäniens durch den Westen hat eine lange Tradition. Der Kommunismus unterbrach in großem Ausmaß diesen Prozess. Nach 1989 kehrte das Land wieder zurück zur alten Tradition. Das heißt, 1990 war kein Nullpunkt, wo man aus verschiedenen Alternativen hätte wählen können. Sondern es war ganz einfach ein Wendepunkt, zum Großteil von der Bevölkerung unterstützt, um den Nachkriegstrend in Richtung Westen fortzusetzen.

DIE FURCHE: In einigen westlichen Mitgliedsländern, u.a. in Österreich, ist man der EU gegenüber sehr kritisch eingestellt. Herrscht in Rumänien auch so etwas wie Enttäuschung über Europa?

Sandu: Die Bevölkerung vertraut der EU viel mehr als den nationalen Institutionen wie Regierung, Parlament oder dem nationalen Rechtssystem. Das Gegenteil ist ja in der Mehrheit der Länder der EU15 der Fall. In Rumänien ist die EU mit positiven Werten besetzt. Und das positive Image der EU liegt nicht nur daran, dass Rumänen jetzt mehr Arbeitsmöglichkeiten vorfinden und mehr verdienen können, indem sie auswandern. Sondern damit ist auch die Hoffnung verbunden, dass vor allem durch die EU-Mitgliedschaft des Landes das Funktionieren der nationalen Behörden und die Infrastruktur verbessert werden können.

(Das Gespräch führte Heike Hausensteiner )

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