Gefangen im Trauma des Krieges

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Hundertausende Ukrainer sind freiwillig in den Krieg in der Ostukraine gezogen und müssen nun mit den psychischen und sozialen Konsequenzen allein zurechtkommen.

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Hundertausende Ukrainer sind freiwillig in den Krieg in der Ostukraine gezogen und müssen nun mit den psychischen und sozialen Konsequenzen allein zurechtkommen.

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Manchmal reicht schon der Klang eines Autos, das vorbeifährt. Oder ein Passant, der ihn an einen seiner Kameraden erinnert. An einen von den zwölf, die gestorben sind. Dann spitzt Wiktor die Augen - nur, um zu erkennen, dass er sich getäuscht hat. Aber dann sind die Bilder wieder da: brennende Panzer, die Verwundeten, die Toten. "Bei mir im Kopf ist das alles miteinander verbunden", sagt Wiktor.

Wiktor, 37 Jahre alt, Bürstenhaarschnitt und freundliches Lächeln, wurde nach dem Maidan für das Battailon "Kiewer Rus" rekrutiert, um die ukrainische Hauptstadt vor möglichen Separatisten-Anschlägen zu schützen. Als dann im Frühling 2014 die Kämpfe in Luhansk und Donezk eskalierten, zog er in den Krieg. "Ich hatte eigentlich einen ganz guten Job - aber für mich war klar: Wenn ich nicht für das Vaterland kämpfe - wer dann?"

Nach einem Jahr an der Front kam er im Mai wieder unversehrt nach Kiew zurück - körperlich. In seiner Psyche haben die Monate indes tiefe Spuren hinterlassen. Seither ist er aufgewühlt, zerstreut und aggressiv. Der soziale Kontakt zu Menschen, die nicht im Krieg waren, fällt ihm oft schwer. "Wenn jemand wegen einer Kleinigkeit herumjammert, macht mich das rasend", sagt Wiktor. "Dann denke ich mir: Weißt du eigentlich, wie es ist, wenn dir zwei Granaten um die Ohren fliegen?"

Zahntausende Heimkehrer

Der Krieg in der Ostukraine dauert nun schon so lange, dass die ersten schwer traumatisierten Kämpfer von der Front zurückkehren. Wie viele der Kriegsrückkehrer leidet Wiktor an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Mehr als 100.000 Menschen haben bereits auf der Seite der ukrainischen Armee und der Nationalgarde an den Kämpfen in der Ostukraine teilgenommen, so die Daten der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform. Allein im Juli sind 24.500 Veteranen von der Front zurückgekehrt, nach dem Ende der ersten Demobilisierungswelle werden es 35.000 Soldaten sein. Zahlen zu jenen Rückkehrern, die an PTBS leiden, gibt es nicht. Das wissenschaftliche Zentrum für humanitäre Probleme der ukrainischen Streitkräfte schätzt den Anteil indes auf 80 Prozent.

Krieg und Frieden - das ist für viele Betroffene nach Monaten an der Front nicht mehr klar voneinander zu trennen, sagt Halyna Zigarenko vom psychologischen Krisen-Zentrum in Kiew. Oft seien es Alltagssituationen, mit denen die Rückkehrer nicht mehr zurechtkommen. "Viele werden schon bei einer Kleinigkeit - wie beim Schlangestehen - aggressiv. Aber nicht, weil sie nicht normal sind, sondern weil ihnen eine schnelle Reaktion an der Front schlichtweg das Leben gerettet hat." Die Psychologin hat bereits am Maidan und zuvor schon bei der Orangen Revolution 2004 Aktivisten psychologisch betreut. Typische Syndrome seien Reizbarkeit, Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu Schlaflosigkeit. Die Symptome treten meist innerhalb eines halben Jahres auf.

Kaum Geld für Betreuung

Wie so oft in der Ukraine-Krise zeigt sich auch hier, dass der Staat dem Problem nicht gewachsen ist. So gibt es zwar eine Handvoll Rehabilitationszentren für ukrainische Soldaten, der Fokus dabei liegt aber auf der körperlichen Behandlung. Hier sind es vor allem wieder Volontäre, die versuchen, den Soldaten auch psychologisch zu helfen. "Wir haben zwar Verträge mit dem Verteidigungsministerium", erzählt die Psychologin Zigarenko. "Aber meine letzte Dienstreise nach Artemiwsk (in der Nähe von Debalzewe, Anm.) habe ich aus meinen eigenen Mitteln bezahlt." Zigarenko und ihre Kollegen sind bei ihrer Arbeit auf Fördermittel und Sponsoren angewiesen - was schwierig ist: Vor allem internationale Geldgeber würden sich weigern, Projekte zur psychologischen Behandlung von Soldaten bereitzustellen. "Die ausländischen Fonds wollen schlichtweg nichts mit dem Krieg zu tun haben", sagt Zigarenko.

Der psychologische Leidensdruck ist in der Ukraine besonders groß. Viele Soldaten haben ihren Job verloren - die Ukraine steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Zudem haben sich die großen Erwartungen des Maidan nicht erfüllt, Reformen kommen nur zähe voran. Wiktor fühlt sich um seine Hoffnungen betrogen. "Ich habe mein Leben riskiert, damit es Reformen gibt", sagt er. "Das Land muss sich jetzt endlich ändern! Damit dieser Krieg auch einen Sinn hat und ich mich nicht vor meinen Jungs schämen muss, die im Krieg gestorben sind."

Weil es keine systematische Nachbehandlung für die Veteranen gibt, wird das Problem in die Familien verlegt - wo die Soldaten wiederum oft auf Unverständnis stoßen. Scheidungen und zerrüttete Familien sind die Folge. "Deswegen sind es vor allem die Ehefrauen, die wir mit unserer Initiative ansprechen wollen", sagt der Kriegspsychologe Sergej Faterin. Vor einem Monat hat er das Projekt "Das Leben vor und nach der ATO (Anti-Terror-Operation, Anm.)" gestartet. So sollen Soldaten vor, während und nach dem Krieg Gesprächstherapien und Aufklärungsgespräche angeboten werden "Wir müssen verstehen: Das ist eine tickende Zeitbombe, die dann vielleicht in 15 Jahren explodieren wird."

Faterin weiß, wovon er spricht: Er hat selbst in den Achtziger Jahren als sowjetischer Soldat im Afghanistan-Krieg gekämpft. Bis heute kann er nur bei geschlossenen Fenstern schlafen - schon das kleinste Geräusch raubt ihm den Schlaf. Die Vorbereitung in den militärischen Ausbildungsstätten hält er für schwer mangelhaft. "Dabei ist es wichtig, die Leute schon vorab aufzuklären, was es heißt, in den Krieg zu ziehen."

Der Umgang mit den Veteranen schwankt derweil zwischen Heldenverehrung und Entfremdung. Am Kiewer Flughafen Boryspil sind die Bilder der lettischen Künstlerin Noldofinve ausgestellt: Ukrainische Soldaten in heroischen Posen, Verteidiger des Vaterlandes. Eine weiße Himmelsgestalt, "Mutter Erde" beschützt die bis zu den Zähnen bewaffneten Soldaten auf ihrer heiligen Mission. Verstörender Kriegs-Kitsch - oder doch Balsam auf die geschundene Volksseele? Es sei wichtig, dass eine Gesellschaft den zurückkehrenden Soldaten mit Respekt und Achtung begegnet, wirft Zigarenko ein: "Es ist statistisch erwiesen, dass PTBS weniger häufig auftritt, wenn die Tätigkeit der Soldaten gesellschaftlich anerkannt ist."

Diskriminierung nach der Rückkehr

Abseits der patriotischen Huldigungen gibt es allerdings viele Berührungsängste zu den Kriegsrückkehrern. Dabei würden nicht alle Soldaten an Traumata leiden, betont Zigarenko - man dürfe nicht den Fehler machen, alle Veteranen zu pathologisieren. Dennoch gibt es immer wieder Fälle, bei denen die Kriegsrückkehrer bei der Jobvergabe diskriminiert werden. Dabei werden die Betroffenen mit posttraumatischer Belastungsstörung nicht zu tötenden Monstern, sondern oftmals schlichtweg depressiv, sagt der Kriegspsychologe Faterin. "Wenn wir nichts machen, dann werden wir die Psyche dieser Menschen und auch die Psyche dieses Landes zerstören."

Der ehemalige Soldat Wiktor hat indes den Weg in das zivile Leben zurückgefunden. Er arbeitet heute wieder als Produzent bei einem ukrainischen Fernsehsender.

Als er aus dem Krieg zurückkam, suchte er sich psychologische Hilfe. "Alles, was ich damals dort nicht verstehen konnte, versuche ich, jetzt einzuordnen." Mal gelinge es besser, mal schlechter. "Aber ich arbeite daran - ständig."

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