Gegen den Strom der Vereinfacher

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Maximal 120 Jahre gab Mose (Gen 6,3) dem Menschen, nur noch 100 der Weisheitslehrer Jesus Sirach (18,9), sofern einer "kein Fresser und Säufer" und kein zügelloser Lebemann ist, das Maul nicht aufreißt und sein Herz nicht verzagen lässt. Passt alles auf Gerald Stourzh, und man wünscht, es mögen ihm über seinen 80. Geburtstag am 15. Mai hinaus noch viele Jahre bleiben!

Der Wiener Historiker mit offenem Geist und Herzen für eine unglaubliche Themenvielfalt hatte schon Studien in Wien, Frankreich und England hinter sich, als er promovierte. Er forschte jahrelang in amerikanischer ebenso wie in europäischer Geistesgeschichte, erläuterte in den USA europäische Sichtweisen und hierzulande das Weltverständnis eines Alexander Hamilton und Benjamin Franklin.

Ein Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dokumentierte er 2002 in dem Sammelband "Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung", wo Spitzenforscher den geistigen Standort Europas zu definieren versuchten. Die OSZE reicht als Institution von San Francisco bis Wladiwostok, der Europarat und der Europäische Gerichtshof von Portugal bis Türkei, Russland und Transkaukasien, Euroland wieder ist nur ein Teil davon.

"Stets weitere Dimensionen"

Überzeugt fordert Stourzh, "stets weitere Dimensionen im Auge zu haben". Er übersieht nicht, dass Huntington schon die Grenze zwischen lateinischer und orthodoxer Christenheit als Kampflinie der aufeinanderprallenden Zivilisationen markiert. Europa ist nicht mit dem Westen identisch - aber auch nicht mit geografischen Formationen, gehören doch auch Kolonialismus und Mega-Zwangsmigration dazu. Aktuelle Schlussfolgerung: Für die Umgrenzung der Europäischen Union gibt es keine zwingenden theoretischen Gründe - sie muss politisch entschieden werden.

In die österreichische Zeitgeschichte hat sich Stourzh als Erforscher der "Schlüsseljahre" 1945 und 1955 unauslöschlich eingetragen. Seine Darstellung des Weges zu Staatsvertrag und Neutralität ist zu einem Standardwerk geworden - besser: zu Standardwerken, denn von 1985 bis 2005 hat er diese Darstellung in vielen Neuauflagen immer wieder auf den letzten Stand der Forschung gebracht. Dazu kamen Untersuchungen des Österreich-Begriffs über zehn Jahrhunderte hin, der Begriffspaare Geschichte und Recht, Freiheit und Ordnung, Christentum und Politik, nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa, der Ursprünge der Sozialpartnerschaft.

Kennzeichnend für seine Urteile war immer das Bemühen, logisch und nicht ideologisch zu analysieren. Das ist ein geistiges Erbe seines Vaters Herbert Stourzh († 1941), der Liberaler, Deutschliberaler, evangelischer Christ und Freimaurer war und sich kompromisslos von seinen deutschliberalen Freunden abwandte, als diese in den Sog des Nationalsozialismus gerieten.

Gerald Stourzh, der auch an der Freien Universität Berlin lehrte, zwei Jahre im Auswärtigen Dienst arbeitete, Österreichs Gesellschaft für Außenpolitik aufbaute und bis zu seiner Emeritierung 1997 Ordinarius für neuere Geschichte in Wien war, gab noch 2008 wesentliche Schriften seines Vaters kommentiert heraus. "Gegen den Strom" lautete das Motto - ihm blieb auch der Autor bis heute treu, wenn der Strom der Zeitdeutung in Richtung Simplifizierung, Oberflächlichkeit und Voreingenommenheit ging.

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