Gegen die Angst des Mittelstands

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Die Freiheitlichen sind zweitstärkste Partei geworden. Das Parteiensystem der zweiten Republik tritt in eine neue Phase.

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Die Freiheitlichen sind zweitstärkste Partei geworden. Das Parteiensystem der zweiten Republik tritt in eine neue Phase.

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Viele träumten bei dieser Wahl von einer Wende, aber sie verabsäumten, eine klare Richtung anzugeben. Man hatte die alte Koalition satt, doch die neuen Verhältnisse sind nicht eindeutig. Die Stärkung der FPÖ geht einher mit einer Schwächung von SPÖ und ÖVP. Man stärkte die Grünen und wählte das Liberale Forum ab.

Österreich geht es im Großen und Ganzen, gut. Ausländischen Reportern erschien angesichts der Arbeitslosigkeits- und Armutsdaten der Haiders Siegeszug unverständlich. Daß die freiheitliche Ausländerhetze - bei gegen Null tendierenden Zuwanderungsraten - auf fruchtbaren Boden fällt, bewirkte Kopfschütteln.

Was ist los in Österreich? Hier wie überall in Europa ist bei Wahlen der Wille der Mitte ausschlaggebend. Unter den Bedingungen eines verschärften Wettbewerbs ist sich der Mittelstand seiner Position niemals sicher. Alles, was die letzten beiden Generationen erreichten, steht immer wieder zur Disposition. Die Mittelklasse lebt in beständiger Angst vor dem Absturz, ihr Kapital ist kein wirklicher Reichtum, ist nie gefestigt.

Daher ihre Ressentiments gegenüber den wirklich Reichen und den wirklich Armen, die sie beide fürchten. Da die wirklich Reichen nicht zur Wahl stehen, schlagen sie das politische Establishment und machen den Armen die ohnehin armseligen Töpfe streitig. Nichts beunruhigt die Mittelschichten mehr als die Vorstellung, jemand könnte etwas gratis bekommen, wofür sie sich ohne Unterlaß anstrengen müssen. Daher schreckt den Bundeskanzler, diesen Mann der Mitte, das Wort "Grundsicherung".

Haider verspricht dem Mittelstand die Bewahrung des Erreichten, Ruhe in einer unruhigen Welt. Er verheimlicht die Gründe der Unruhe: die Macht der Finanzmärkte, die Interessen der Global Players, die Tatsache, daß Politik weniger denn je auf national-souveränen Entscheidungen beruht. Hinzu kommt, daß Haider keine Vorstellung von europäischer Politik hat, weder eine pragmatische noch eine visionäre. Den Regierungsparteien war Europa seit langem ein rhetorischer, kein realitätsmächtiger Begriff: In die Union zu gelangen, war ihr letztes großes Projekt gewesen, die Gestaltung der Union war kein Anliegen mehr.

Österreichs Mittelschichten, die sich von Haider die große Wende erwarten, werden im besten Fall einen Stillstand, im schlimmeren Fall den Auftakt zu einer reaktionären Politik ernten. Diese wird sie nicht schützen vor der Unruhe, die veränderte sozio-ökonomische Bedingungen über dieses Land und Europa gebracht haben.

Die Mittelschichten können sich und ihr Kapital nur retten, wenn sie Kräfte wählen, die Vorstellungen eines politischen und ökonomischen Liberalismus mit jenen des sozialen Ausgleichs zwischen allen Gruppierungen der österreichischen und der europäischen Gesellschaft zu verknüpfen vermögen.

Am Tag nach der Wahl titelten ausländische Zeitungen mit "Rechtsruck in Österreich". Diesen Rechtsruck als Regierungsprogramm wird es nur geben, wenn ÖVP oder SPÖ mit der FPÖ koalieren. Eine Fortsetzung der Großen Koalition aber kann nur erfolgreich sein, auch im Sinne einer Bestätigung oder Stärkung dieser beiden Parteien, wenn sie sich an neue Entwürfe für Österreich und Europa wagen. Die Fixierung auf Widersacher Haider ist von begrenzter Tragweite und keine Politik.

Die Autorin ist Leiterin der Forschungsstelle für institutionellen Wandel und europäische Integration an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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