weil - © Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Archiv Seemann

Gegen Propaganda: Die Parteien abschaffen?

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Weil sie kollektive Suggestion und Propaganda befördern würden, plädierte die Philosophin Simone Weil einst für ein Ende der politischen Parteien. Nun wurde ihre radikale Absage neu übersetzt. Eine Relecture im Lichte der vergangenen Bundespräsidentenwahl.

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Weil sie kollektive Suggestion und Propaganda befördern würden, plädierte die Philosophin Simone Weil einst für ein Ende der politischen Parteien. Nun wurde ihre radikale Absage neu übersetzt. Eine Relecture im Lichte der vergangenen Bundespräsidentenwahl.

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Aus der Perspektive von 1943 hätte die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943) die jüngste Bundespräsidentschaftswahl vermutlich zustimmend beurteilt, weil es um die Wahl eines Präsidenten durch das Volk ging und die politischen Parteien dabei eine nur randständige Rolle spielten. Ihre in den letzten Lebensmonaten in London verfassten „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ sprechen ein Problem der Demokratie an, das heute auf neues Interesse stößt. 1950 wurde dieser Essay erstmals veröffentlicht. 2013 erfolgte eine englische Übersetzung, und nach 2009 liegt aktuell sogar schon eine zweite deutsche Übersetzung vor.

Weils Absage an Parteien ist so radikal, dass nach ihr der „Teufel“ sich kein „genialeres System“ wünschen könnte, wenn er das öffentliche Leben organisieren würde. Wie begründet Weil ihre Kritik? Parteien dienen erstens der „Erzeugung kollektiver Leidenschaft“, üben zweitens einen „kollektiven Druck auf das Denken jedes einzelnen Menschen“ aus und haben drittes nur das eigene „unbegrenzte Wachstum“ zum Ziel. Sie stellen sich außerdem gegen das Gemeinwohl, weil sie „in den Seelen der Menschen den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abtöten“. Weils harsches Urteil bezog sich vor allem auf die zu ihrer Zeit zum Totalitarismus neigenden Parteien auf dem europäischen Kontinent. Die angelsächsischen Länder nahm sie von dieser Kritik aus, weil deren Parteien noch einen „spielerisch-sportlichen Zug“ aufwiesen.

Was ist an Weils damaligen Notizen aktuell? Es ist bekannt, dass für Parteien das bessere Argument oft sekundär bleibt und die „Parteisoldaten“ sich dem „Clubzwang“ und der „Parteidisziplin“ unterwerfen müssen. In Ländern wie Österreich hat aber die Bedeutung von Parteien – und auch von Institutionen wie der Kirche, von der nach Weil das gefährliche Parteiendenken aus der Verfolgung von Häretikern hervorging – deutlich abgenommen. Auch hat sich die Zahl der Parteien in vielen Ländern vervielfacht, was insofern positiv ist, als schon Weils philosophischer Gewährsmann Jean-Jacques Rousseau bemerkte, dass das die beste Lösung sei, wenn sich Parteien schon nicht abschaffen ließen.

Instrumente der Polarisierung

Die heutige Bedeutung von Weils Essay zeigt sich aber vor allem in der Zerstörung des eigenständigen Denkens, der damit einhergehenden Schwächung der Wahrheit und den daraus folgenden politischen Polarisierungen, wie wir sie heute vor allem als Auswirkung der sozialen Medien beobachten können. Auch in ihrem Fragment gebliebenen und zeitgleich geschriebenen Buch „Die Verwurzelung“ setzt sie sich mit den Gefahren kollektiver Suggestion und Propaganda auseinander und bemerkt, dass die „moderne Technik“ dafür „äußerst wirksame Instrumente“ liefert.

Heute können wir diesem Hinweis sehr viel mehr Gewicht verleihen. Unsere politisch und sozial polarisierten „Post-­truth“Gesellschaften bedeuten einen radikalen Angriff auf die Demokratie, wie wir das am Beispiel der USA (Trump), aber auch in Großbritannien (Brexit) beobachten konnten. Das Buch des US-Informatikers Jaron Lanier – „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ – kann als eine technisch auf den heutigen Stand gebrachte Version von Weils Essay gelesen werden: „Demokratische Wahlen sind eine echte Vermischung unterschiedlicher Ideen, und sie haben in der Menschheitsgeschichte diversen Gesellschaften geholfen, sich trotz Kontroversen weiterzuentwickeln – aber nur, solange die Schalter der Bürger auf ‚Einzelgänger‘ gestellt sind. Eine echte Demokratie geht zugrunde, wenn die Schalter auf ‚Rudel‘ stehen.“

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