Gegner des Absolutistischen

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Nicht als vermeintlicher "Verfassungsvater", sondern als unermüdlicher Verteidiger demokratischer Grundprinzipien bleibt Hans Kelsen zu entdecken.

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Nicht als vermeintlicher "Verfassungsvater", sondern als unermüdlicher Verteidiger demokratischer Grundprinzipien bleibt Hans Kelsen zu entdecken.

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Eine demokratische Gesellschaft braucht nicht nur eine demokratische Verfassung: Sie braucht vor allem eine öffentliche rechts- und demokratiepolitische Diskussion, die bewusst mit dem Faktum gesellschaftlicher Interessensgegensätze umgeht und sich von einem autoritären "Recht ist Recht" verabschiedet. Wichtiger als Hans Kelsens unmittelbare Beiträge zur Österreichischen Bundesverfassung erscheinen deshalb seine theoretischen Angebote: Nicht als vermeintlicher "Verfassungsvater", sondern als unermüdlicher Aufklärer und Verteidiger demokratischer Grundprinzipien bleibt Hans Kelsen zu entdecken.

1932 weist Hans Kelsen in seinem Aufsatz "Verteidigung der Demokratie" nachdrücklich darauf hin, dass keine Demokratie ohne eine Mehrheit auskommt, die ein lebhaftes Interesse an der Demokratie selbst zeigt und diese energisch verteidigt. Keine Verfassung kann eine demokratische Ordnung garantieren, wenn Personen, die Staatsfunktionen - ob im Parlament, in der Regierung, in der Verwaltung, in der Exekutive oder in der Justiz - ausüben, ihr Handeln nicht an demokratischen Grundsätzen ausrichten und von einer Öffentlichkeit darin ständig bestärkt und kontrolliert werden. Nicht die Wahrung der nahezu unendlich ausreizbaren Grenzen der Rechtsordnung garantiert die Demokratie, sondern die Anerkennung der politischen Kontrahenten und Kontrahentinnen und damit die Bereitschaft zu Kompromiss.

Die Relativität des Rechts anerkennen Verteidigung der Demokratie durch wissenschaftliche Aufklärung - damit lässt sich das Werk Hans Kelsens charakterisieren. Einer breiten Öffentlichkeit ist Kelsen nur als vermeintlicher "Verfassungsvater" bekannt, ein Titel, durch den Kelsens Einfluss auf die Bundesverfassung eher karikiert denn erfasst wird. Seiner Rechts- und Demokratietheorie, die innerhalb der Rechtswissenschaften weltweite Beachtung gefunden hat, wird vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Grundlegend für Kelsens Arbeit ist der Bruch mit einer absolutistischen Rechtsauffassung. Es gilt die Relativität des Rechts anzuerkennen und sich der Mühe zu unterziehen, die Komplexität des Rechts als normatives System und soziales Instrument zu analysieren. Die Relativität des Rechts ist dabei mehrfach begründet. Rechtliche Normen stehen erstens in einem Zusammenhang mit zahlreichen anderen Rechtsnormen: ihr Sinn erschließt sich ausschließlich in diesem Zusammenhang.

Zweitens geben rechtliche Normen immer nur einen Rahmen vor, innerhalb dessen Organe wie etwa Richter oder Verwaltungsbeamte neue Rechtsnormen erzeugen. Recht liegt nicht bloß statisch vor, sondern wird auf unterschiedlichen Ebenen dynamisch erzeugt, Gesetzesnormen bestimmen die Produktion von niedrigrangigeren Normen niemals völlig. Die Rechtstheorie muss diese Spielräume beschreiben und damit das politische Moment der Erzeugung selbst lokaler Rechtsnormen anerkennen.

Drittens sind rechtliche Normen Ergebnisse menschlicher Entscheidungsprozesse, in denen unterschiedliche ökonomische, soziale, kulturelle und religiöse Interessen jeweils nur beschränkt Berücksichtigung finden. Die Tatsache, dass eine Norm als Recht erkannt werden muss, weil sie einem gültigen Rechtssystem angehört, sagt damit noch nichts darüber aus, ob sie aus konkurrierenden moralischen oder politischen Perspektiven auch gerechtfertigt ist oder gerechtfertigt werden kann. Recht - ob nun Verfassungsgesetze oder richterliche Urteile - wird damit der Kritik unterworfen: Dass etwas rechtlich gedeckt ist sagt noch nichts über dessen zum Beispiel demokratiepolitischen oder moralischen Status aus. Damit gilt aber auch: Dass eine Handlung gegen Rechtsnormen verstößt, schließt eine moralische oder politische Rechtfertigbarkeit nicht aus.

Kelsens Forderung, Rechtszusammenhänge der Komplexität und Problematik bewusst zu erörtern, richtet sich nicht nur an die Rechtswissenschaft. Jede demokratische Öffentlichkeit muss eine Kultur rechtspolitischer Erörterung entwickeln, die sich dagegen wehrt, Rechtsbehauptungen autoritativ vorzutragen.

Dass juristische Aufklärung, selbst über bloß positiv-rechtliche Voraussetzungen, notwendig ist, zeigt sich aktuell an der Auseinandersetzung um die "Donnerstag-Demos". Seit der Bildung der VP/FP-Regierung findet in Wien jeden Donnerstag eine Demonstration gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ und für die Ausschreibung von Neuwahlen statt. Von Vertretern beider Regierungsparteien wurden diese Demonstrationen des Öfteren scharf angegriffen. Nicht nur würde eine Minderheit hohe Kosten verursachen, sondern die Demonstrationen seien auch illegal, weil nicht angemeldet. Die Exekutive selbst folgt jedoch Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, gemäß denen eine Nichtanmeldung keinen Grund darstellt, eine Demonstration aufzulösen. Die Teilnahme an einer nichtangemeldeten Demonstration stellt keinen Rechtsverstoß dar.

Tatsache ist, dass selbst die verfassungsgesetzliche Sicherung des Demonstrationsrechts komplex gestaltet ist. Weiters dürfte es für regelmäßige Demonstrationen, zu denen Teilnehmer und Teilnehmerinnen ohne vorhergehenden Aufruf erscheinen können, in Österreich noch keinen Präzedenzfall geben. Wie zwischenzeitig eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren gegen Einzelpersonen, denen eine Verpflichtung zur Demonstrationsanmeldung zugemutet wird, ausgehen, bleibt abzuwarten. Hier interessiert nur, dass es - obwohl es sich um ein zentrales politisches Grundrecht handelt - bislang kaum zu einer intensiven öffentlichen Erörterung der positiv-rechtlichen, historischen und demokratiepolitischen Grundlagen des Demonstrationsrechts gekommen ist.

Kelsens Analysen des Rechtssystems ermöglichen insbesondere auch die Verfeinerung der Rechtstechnik, um sicherzustellen, dass der Willkür einzelner Rechtsorgane - der Regierung, der Gerichte et cetera - Schranken gesetzt werden. Zu Kelsens zentralen Leistungen zählt dabei die theoretische Begründung und konkrete Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit.

Kelsens kritisch-realistische Herangehensweise bewährt sich gerade auch in seiner Demokratiekonzeption. Statt von Begriffsdefinitionen auszugehen, betont Kelsen die soziale Funktion der Demokratie: die Erzielung eines Kompromisses. Wenn eine Demokratie sich an der Orientierung am Kompromiss und damit der möglichst weitgehenden Berücksichtigung der Interessen aller gesellschaftlichen Gruppierungen auszeichnet, müssen zentrale Elemente der demokratischen Organisation neu und das heißt realistisch aufgefasst werden.

Für Kelsen resultiert daraus zuerst die Anerkennung der politischen Parteien (und damit jeder Form der Interessenorganisation) als Grundlage jeder funktionierenden Demokratie. Innerhalb der Interessenorganisationen werden Probleme verhandelt und Interessengegensätze zu vereinbaren gesucht. Kelsen betont, dass eine Demokratisierung der Gesellschaft auch die Forderung einschließt, auf demokratischen Strukturen innerhalb der politischen Parteien zu bestehen.

Der Parlamentarismus wird von Kelsen als einzig real mögliche, aber deshalb keineswegs unproblematische Realisierungsform der Demokratie analysiert. Kelsen betont, dass das Parlament die Bevölkerung nur fiktiv - Kelsen spricht von der Repräsentationsfiktion - repräsentiert. Alternative Formen der Interessenartikulation - jenseits von Wahl und Referendum - sind deshalb von großer Bedeutung.

Konsensorientierung bleibt vorrangig Kelsens Theorie wendet sich gegen konservative, herrschaftszentrierte Demokratiekonzeptionen. In einer Demokratie kommt Institutionen des Interessenausgleichs der Vorrang gegenüber der Generierung der Regierung zu. Die Rede von der "Herrschaft der Mehrheit" im Zusammenhang mit Demokratie ist völlig fehl am Platz. Mit ihr versucht eine Exekutive in Anspruch zu nehmen, was nichtdemokratisch legitimierte Regierungen für sich zu erzwingen suchen: durch öffentliche Kritik und Opposition nicht in Frage gestellt zu werden. Jede Regierung bleibt in einer Demokratie an die Konsensorientierung gebunden, denn die Legitimation durch eine Mehrheit der Wählerstimmen rechtfertigt kein absolutistisches Vorgehen der Exekutive gegenüber zuletzt in der Wahlauseinandersetzung unterlegenen Interessengruppen.

Demokratie lebt von ihrer täglichen Verteidigung. Zu dieser gibt nicht nur eine Regierungspartei, die sich laut Plakatwerbung "nicht bremsen lassen" will, nahezu täglich Gelegenheit. Das Risiko zu sprechen ist kalkulierbar, das Risiko zu schweigen nicht. Der Bruch der Verfassung ist nur ein Grenzfall: die Kritik muss einsetzen, wo das Ziel jeder demokratischen Gesellschaft - der Interessenausgleich - missachtet wird.

Der Autor ist freier Sozialforscher und geschäftsführender Gesellschafter der Forschungsgesellschaft für angewandte Sozial-und Strukturanalyse (FAS OEG).

HANS KELSEN: VON PRAG NACH WIEN BIS BERKELEY In Prag 1881 geboren, studiert Kelsen - aus kleinbürgerlicher, jüdischer Familie stammend - an der Universität Wien Jurisprudenz, wo ihm aufgrund des dominierenden Antisemitismus vor dem Ende des Ersten Weltkriegs trotz herausragender wissenschaftlicher Leistungen jede Karrierechance verwehrt bleibt. Während des Ersten Weltkriegs erarbeitet Kelsen im Kriegsministerium Pläne für eine Militärrechtsreform.

1919 betraut man ihn mit Vorarbeiten zur Bundesverfassung. Im selben Jahr wird Kelsen Universitätsprofessor und 1921 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs. Nach der Verfassungsreform 1929, in der auch die Verfassungsgerichtsbarkeit reformiert und damit geschwächt wurde, verlässt Kelsen Wien und nimmt 1930 eine Professur in Köln an.

1933 muss er aus Deutschland flüchten und wird Professor in Genf. Zwischen 1936 und 1938 nimmt er zudem - trotz tätlicher Angriffe nationalsozialistischer Studenten - eine Professur in Prag wahr. 1940 emigriert Kelsen in die Vereinigten Staaten, wo er vorerst an der Harvard Law School in Cambridge, ab 1943 an der University of California in Berkeley tätig wird. Bis zu seinem Tode 1973 lebt Kelsen in Berkeley.

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