Gleichstellung und Rollenbild

Werbung
Werbung
Werbung

Neue Daten der Sozialforschung sprechen von erschöpften Familien und Paaren, die lieber pragmatisch als modern leben. Was kann das bedeuten?

Vermutlich ist meine Schwester ein schönes Beispiel für ein pragmatisches Selbstverständnis. Sie lebt mit zwei Töchtern, fünf und sieben Jahre alt, und in einer Lebensgemeinschaft in einem Ort am Land. Ihre Kinder hat sie spät bekommen, ihren Führungsjob nach der Karenz aufgegeben. Der Anfahrtsweg zum alten Job war zu weit und unvereinbar mit Kinderbetreuung. Für unter Dreijährige gibt es kein öffentliches Angebot. Ihr Partner arbeitet Vollzeit, wiewohl er sich an den Randzeiten aktiv in der Familie engagiert. In dessen Betrieb wurde übrigens ein Vater wegen eines Pflegeurlaubes vom Meister deswegen zurechtgewiesen: Solche Extras seien unerwünscht. In der Firma arbeiten überwiegend Männer. Nun hat meine Schwester ein kleines Handelsunternehmen, das sich daheim neben den Kindern bewerkstelligen lässt.

Pragmatisch statt modern

Die Bewerbung um eine Anstellung scheiterte zuletzt, weil es keine freien Hortplätze in ihrem Wohnort gibt. Wiewohl meine Schwester sämtliche Nachteile dieses Familienarrangements trägt, zum Beispiel geringe Pensionsvorsorge, haben sie und ihr Partner sich dafür entschieden. Sie handeln einfach pragmatisch. Ein Minimum an Lebensqualität jetzt sei ihr wichtiger als mehr Geld später, sagt meine Schwester. Sie beugt so der Erschöpfung und dem Familienstress vor. Die weitere Modernisierung der Geschlechterrollen wird aufgeschoben, bis es dafür bessere Bedingungen gibt. Was das sein könnte, ist hinlänglich bekannt: Ein modernes Familienrecht für Lebensgemeinschaften, ein Rechtsanspruch auf Horte und Kinderbetreuungsplätze mit adäquaten Öffnungszeiten, außerdem eine Unterstützung von Vätern, die sich verstärkt an der Familienarbeit beteiligen wollen. Vom Staat kommen derzeit kaum Anreize für Änderungen. Die Modernisierung steht. Wen wundert es, wenn Paare da pragmatisch reagieren?

Auf den ersten Blick erstaunen die Forschungsdaten von Zulehner und Steinmair-Pösel. Sie konstatieren, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Männer und Frauen, die sich als modern verstehen, deutlich zurückgegangen ist. Als modern definieren die Forscher jene, die eine weitgehende Gleichstellung von beiden Geschlechtern sowohl in Familie als auch im Beruf wollen. Stark gestiegen ist die Zahl der Pragmatischen. Die Traditionellen, die Mann und Frau sphärisch weitgehend trennen, sind konstant. Nach wie vor sind Frauenrollen stärker in Bewegung beziehungsweise vielfältiger. Die Möglichkeiten von Männern haben sich leicht erweitert. Zumindest kurze Karenzzeiten in den freieren Berufen sind durchaus akzeptiert. Aber noch immer fürchten 61 Prozent der Männer gravierende berufliche Nachteile, wenn sie der Familie wegen im Beruf zurück stecken. Diese Vermutung bestätigt die Lebenserfahrung. Traditionelle und pragmatische Männer haben den Beweis in ihren eigenen Frauen, moderne Männer erleben es selbst.

Ist deswegen die Gleichstellung an sich in einer Sackgasse gelandet, wie es Zulehner und Steinmair-Pösel im Untertitel ihres Buches formulieren? Ich meine: Nein. Die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht ohne die übrige Gesellschaft zu sehen. Dass sich bei den Rollen von Männern und Frauen wenig bewegt, vor allem für Familienmenschen, ist ein Zeichen, dass die Modernisierung unserer Gesellschaft insgesamt stecken geblieben ist.

Geschichtlich stellte sich die Frage der Gleichstellung immer im Zusammenhang mit neuen sozialen Bewegungen und Umbrüchen. Die erste Deklaration von Frauenrechten gab es während der Französischen Revolution. Die Frauenrechte sollten Teil neuer Bürgerrechte sein. Dafür kämpfte auch die sogenannte erste Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Das entstehende Bürgertum und die Arbeiterbewegung begehrten Bildung und Wahlrecht, auch das war, meinten Frauen, unteilbar zwischen den Geschlechtern. In der zweiten Frauenbewegung ging es schließlich um die Veränderung der Welt im Zug der 1968er-Bewegung. Sie münzte die Errungenschaften des Wirtschaftswunders in Chancen für alle um und bewirkte den rechtlichen Durchbruch in der Gleichstellung der Geschlechter.

Care, Share und Fair

Wenn wir fragen, wie und ob die Entwicklung der Geschlechter einen neuen Schub bekommen könnte, sollten wir schauen, wo Veränderungen anstehen. Ich sehe drei große Themen. Erstens braucht die Weiterentwicklung der Demokratie ein neues Bürgerinnen- und Bürgerverständnis, in Österreich, in Europa und letztlich global. Zweitens müssen wir unserer Art zu wirtschaften neue Perspektiven geben. Drittens steht als Mega-Thema die Erhaltung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten an. Das alles wird zu großen sozialen Neuerungen führen. Deswegen werden wir über unsere Werte erneut diskutieren, die Gleichstellung der Geschlechter wird einer sein. Wenn wir besser leben wollen, hat das auch damit zu tun, wie Männer und Frauen sich verstehen, wie sie Familie leben wollen und welchen Stellenwert die Berufswelt einnimmt. Deren derzeitige Dominanz steht in Frage. Zumindest eine Balance zwischen Familie und Beruf wird angestrebt, von den Modernen sowieso, im Grunde aber auch von den Pragmatischen.

Was könnten neue tragende Werte sein? Nennen wir sie Care, Share und Fair, Fürsorge, Teilhabe und Gerechtigkeit. Care, die Fürsorge, wird eine umfassende Achtsamkeit bedeuten. Was schafft tragende Beziehungen? Welche Auswirkungen hat unsere Art zu leben und zu wirtschaften auf unsere Lebensqualität? Share fragt, ob unser Eigentumsbegriff an Dingen, Umwelt und an Besitzständen formaler Art so bleiben muss. Wie viel und was brauchen wir zum guten Leben? Wie lässt sich das organisieren? Fair steht schließlich für die Teilhabe möglichst vieler Menschen an dem, was sie selbst angeht und was sie zum guten Leben brauchen. Das geht nicht ohne die Einsicht, dass alle Ressourcen begrenzt sind, außer den kreativen, die es zu teilen und füreinander einzusetzen gilt.

Dass diese neuen Werte im Wachsen sind, zeigt mir das Beispiel der Schwägerin meiner Schwester. Sie lebt auch auf dem Land mit zwei Kindern und einem Vollzeit berufstätigen Mann. Das neu erbaute Haus ist seit kurzem schuldenfrei. Nun hat sie ihren Job als Verkäuferin bei einem Schuhdiskonter gekündigt. Ihr ging sowohl der beständig wachsende Umsatzdruck auf die Nerven als auch die Wegwerfmentalität ihrer Kunden. Abgesehen davon, dass die Zwanzig-Euro-Schuhe unter für sie unerträglichen Bedingungen hergestellt werden. Nun geht die 35jährige daran, ihren Wunsch nach sinnvoller Tätigkeit zu verwirklichen. Sie heuert im Hofladen eines Biobauern an. Das Gefühl "richtig“ zu leben, wiegt ihren finanziellen Nachteil auf. Das zeigt mir, dass aus dem Feld der Pragmatischen eine neue Art von Modernität wächst.

Große Umbrüche

Die Lust an noch mehr Erschöpfung um den Preis von wenig echter Lebensqualität sinkt. Das zeigen die Daten von Zulehner und Steinmair-Pösel. Unsere gewohnte Art zu leben und zu wirtschaften scheint an eine Grenze gekommen zu sein. Ich meine nicht, dass die Gleichstellung in einer Sackgasse ist. Die Richtung stimmt. Unklar ist, wann und wie die nächsten großen Umbrüche sich entwickeln. Die Ängstlichen kehren in solch unsicherer Zeit lieber um. Die Pragmatischen sondieren die Möglichkeiten und probieren mit begrenztem Risiko Neues aus. Keine schlechte Strategie. Das moderne Rollenverständnis wird vermutlich eine andere Art von Modernität zeitigen. Dann geht es zwischen den Geschlechtern nicht mehr um die Überwindung alter Muster, sondern um das Engagement für ein gutes Leben für alle.

Die Autorin ist Chefredakteurin von "Welt der Frau“

Gleichstellung in der Sackgasse?

Frauen, Männer und die erschöpfte Familie von heute. Von Paul M. Zulehner/Petra Steinmair-Pösel. Styria premium 2014, 304 Seiten, Hardcover, e 24,99

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung