Gras des Vergessens über den Killing fields
Ein internationales Tribunal soll sich mit den Greueln der Roten Khmer befassen, fordern viele. Doch die Chancen auf Umsetzung stehen schlecht.
Ein internationales Tribunal soll sich mit den Greueln der Roten Khmer befassen, fordern viele. Doch die Chancen auf Umsetzung stehen schlecht.
Wir hatten immer Hunger. Und oft waren wir vor lauter Hunger auch schwindlig", erzählt Kem Bophu. Drei Jahre war er alt, als die Roten Khmer 1975 die Macht in Kambodscha übernahmen, sieben, als sie um die Jahreswende 1978/79 von einer vietnamesischen Invasionsstreitmacht zurück in den Dschungel gedrängt wurden. Alt genug also, um gesehen und verstanden zu haben. "Ich war dabei, wie Rote Khmer Menschen getötet haben. Schwächere haben sie umgebracht, indem sie sie gegen einen Baum schlugen. Anderen haben sie die Kehle durchschnitten", sagt Kem, der heute für das Khmer Institut für Demokratie (KID) in der Hauptstadt -Phnom Penh arbeitet, und verfällt in Schweigen.
"Es ist schwer, über das alles zu reden", fährt er nach einigen Minuten fort. "Ich war damals bei meiner Mutter, irgendwie hat sie erreicht, daß sie mich nicht fortbrachten. Doch der Vater, der Bruder und die Schwester waren woanders." "Aber", beendet Kem abrupt seine Erzählung, "wir hatten solches Glück. Meine Familie gehört zu den ganz wenigen, in der alle überlebt haben."
Agrarkommunismus Während des Terrorregimes der Roten Khmer, in dem mit dem Ziel eines Agrarkommunismus die Städte entleert, Schulen und Universitäten geschlossen, Bücher und Religion verboten wurden, sind bis zu zwei Millionen Menschen ermordet worden oder an den Folgen von Unterernährung, Erschöpfung und Krankheiten gestorben. "Wie", fragt Kem, "kann man heute die noch lebenden Führer der Khmer Rouge nicht zur Rechenschaft ziehen? Was bedeutet denn das für nachfolgende Generationen?"
Doch die Forderung nach einem internationalen Tribunal für die Khmer Rouge, die vor allem von in- und ausländischen Menschenrechtsorganisationen sowie von westlichen Staaten erhoben wird und zuletzt auch von der UNO unterstützt wurde, ist unter der Bevölkerung umstritten. Viele Kambodschaner wollen mit diesem entsetzlichen Kapitel in der Geschichte ihres Landes nicht noch einmal so direkt konfrontiert werden, sei es aus Erschöpfung oder Angst oder weil sie schon mit dem täglichen Überleben überfordert sind.
500.000 Unterschriften für ein Tribunal wollte die Task Force Menschenrechte, in der sich mehrere nichtstaatliche Organisationen zusammengeschlossen haben, sammeln, knapp über 90.000 hat sie vorerst bekommen. Das hat mit Behinderungen einzelner Mitarbeiter durch die Polizei zu tun. Hauptgrund aber ist, daß die meisten Befragten sich einfach nicht trauen, ihre Unterschriften unter eine derartige Forderung zu setzen. Denn die Grundfreiheiten sind in Kambodscha auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Pol Pot-Herrschaft nicht gesichert. Zwar endete der auf den Sturz Pol Pots folgende Bürgerkrieg zwischen dem von Vietnam gestützten Regime Hun Sen und den Roten Khmer vor knapp zehn Jahren; auch haben seither zwei formal demokratische Wahlen stattgefunden, 1993 der erste, von der UNO finanzierte und geleitete Urnengang, 1998 ein weiterer; von echter Demokratie und einem Rechtsstaat kann aber keine Rede sein. Vor allem der Putsch von 1997, als der erste Premier Hun Sen seinen Ko-Ministerpräsidenten Prinz Ranariddh stürzte und in der Folge mehr als einhundert Oppositionelle verschwanden oder ums Leben kamen, ist nicht vergessen. Zwar haben sich die Intimfeinde Hun Sen und Ranariddh Ende 1998 erneut zu einer Koalitionsbildung durchgerungen, doch ein tiefes Unbehagen unter den Kambodschanern bleibt bestehen.
US-Verantwortung Hun Sen selbst hat sich zur Frage der Geschichtsaufarbeitung in seinem Land widersprüchlich geäußert: Von einer Bereitschaft zur Kooperation mit der UNO über eine völlige Ablehnung eines internationalen Tribunals, das Angebot, einem solchen Tribunal unter der Voraussetzung zuzustimmen, daß auch das gesamte geschichtliche Umfeld umfassend untersucht werde, bis hin zur vagen Andeutung, ein nationales Tribunal veranstalten zu wollen, reicht das Spektrum seiner Vorschläge.
Mit "umfassender Untersuchung" bezieht sich Hun Sen sowohl auf die Zeit vor wie auch nach dem Khmer Rouge-Regime. Ab dem Ende der sechziger Jahre wurde Kambodscha zum Nebenschauplatz im Vietnamkrieg und von den USA rücksichtslos bombardiert. Hunderttausende kamen laut internationalen Studien ums Leben, zwei Millionen Kambodschaner wurden zu internen Flüchtlingen. Das Land, in dem die Roten Khmer schließlich die Macht übernahmen und ihr Experiment eines steinzeitlichen Agrarkommunismus begannen, war zerrüttet, zerstört, von Hunger geplagt, unfähig, sich um seine Flüchtlinge zu kümmern. In manchen kanadischen Medien wurde daher schon vor einiger Zeit der Ruf laut, auch den damaligen US-Außenminister Henry Kissinger und Präsident Richard Nixon vor ein Tribunal zu stellen.
Nach ihrem Sturz 1979 wiederum fanden die Roten Khmer in ihrem Krieg gegen das kommunistische Hun Sen-Regime Alliierte in den USA, China, Thailand, in Kambodschas König Sihanouk und der Funcinpec-Partei seines Sohnes Prinz Ranariddh. Ihnen allen ging es in der Zeit des Ost-West-Konflikts vorrangig darum, eine Expansion des kommunistischen Vietnam in Indochina zu verhindern, und sei es in Allianz mit dem Massenmörder Pol Pot.
Als die Hun Sen stützenden vietnamesischen Besatzer Ende der achtziger Jahre schließlich abzogen und der Weg für das Friedensabkommen von 1991 frei wurde, befürworteten auch die westlichen Regierungen die Beteiligung der Roten Khmer an der politischen Neuordnung des Landes. Die Roten Khmer allerdings lehnten eine Mitwirkung an den Wahlen 1993 ab. Sechs Jahre danach ist Pol Pot tot (er starb im Vorjahr im Dschungel an der thailändischen Grenze), haben sich zwei ehemalige Führer der Roten Khmer, Khieu Samphan und Nuon Chea, ergeben und ist der als "Schlächter mit einem Bein" verrufene Ta Mok gefangen genommen worden. Nachdem sich schon vor zwei Jahren Massen von den Roten Khmer abgesetzt haben, ist die Organisation damit praktisch zusammengebrochen.
Sofort nach der Verhaftung Ta Moks vor wenigen Wochen kam die Vermutung auf, daß Premier Hun Sen nun ihm stellvertretend für alle anderen den Prozeß machen wolle. Khieu Samphan und Nuon Chea hatte der Premier zum Entsetzen vieler im In- und Ausland ja Ende des Vorjahres mit allen Ehren in der Hauptstadt empfangen und dann wieder unbehelligt in Richtung Pailin, an der Grenze zu Thailand, ziehen lassen. Entschuldigt hatten sie sich schon, die zwei Roten Khmer. Es tue ihnen "sehr, sehr leid", sagten sie vor der Presse, daß sie den Kambodschanern so viel Leid zugefügt hätten. Doch sie redeten sofort dem Vergessen das Wort: "Die Geschichte in unserem Land ist sehr kompliziert", betonte Khieu Samphan. Da habe es doch keinen Sinn, herumzuwühlen. Zudem hätten die meisten Kambodschaner heute genug Probleme zu lösen. "Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Es ist die einzige Chance für nationale Versöhnung. Es ist die Vorbedingung für Frieden und Stabilität in diesem Land", forderte Khieu Samphan.
Bosnien & Ruanda Premier Hun Sen untermauerte diese These kurz darauf: "Wir sollten ein großes Loch graben und die Vergangenheit begraben", verlangte er. Man darf davon ausgehen, daß er auch seine ganz persönliche Vergangenheit in dieses Loch kippen will. Denn Hun Sen war selbst Mitglied der Roten Khmer, bis er aus Sorge, der nächsten internen Säuberung zum Opfer zu fallen, zu den Vietnamesen flüchtete. An der Spitze seiner heute ex-kommunistischen Volkspartei sitzen, ebenso wie in der Führung der Armee, eine Reihe ehemaliger Roter Khmer.
Die Chance auf ein internationales Tribunal erscheint heute so gering wie auf eine - ebenfalls von UNO-Experten vorgeschlagene - Wahrheitskommission für Kambodscha. Dabei hat das aus dem Genozid-Programm der amerikanischen Yale-Universität hervorgegangene Kambodschanische Dokumentationszentrum ein umfassendes Archiv mit rund 350.000 Dokumenten - darunter Fotomaterial und Angaben zu Massengräbern - über die Greuel der Khmer Rouge zusammengetragen.
"Wenn es für Bosnien und Ruanda möglich war, warum nicht für Kambodscha?" fragt Kem vom Institut für Demokratie. Doch der politische Wille dazu ist nicht da. Und sollte es je zu einer Abstimmung in der UNO kommen, darf Premier Hun Sen sich wohl auf das Veto Chinas verlassen.